Das klingende Archiv
Erzählen, was nicht erzählt werden kann: In der vom Bayerischen Rundfunk gemeinsam mit dem Institut für Zeitgeschichte realisierten Höredition „Die Quellen sprechen“ sind Original-Dokumente zur Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten zu hören. Die eindrücklichen Archivstücke werden ergänzt durch Interviews mit Zeitzeugen und Interviews zu den wissenschaftlichen Hintergründen.
„Die Quellen Sprechen“ ist für den Grimme Online Award in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“ nominiert. Im Interview erzählt die Koordinatorin und Redakteurin Katharina Agathos von den eindrücklichsten Dokumenten, dem persönlichen Auftrag, die Quellen einem breiten Publikum zugänglich zu machen und der Entscheidung Zeitzeug*innen die Dokumente vertonen zu lassen.
Was hat Sie persönlich dazu bewegt, das Projekt umzusetzen?
Neugierde. Wissbegierde. Mehr Wissbegierde als Neugierde. Natürlich habe ich es als einmalige Chance angesehen, eine wissenschaftliche Edition, die, wenn sie abgeschlossen ist, zwischen 5.000 und 6.000 Dokumente zur Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland bereithalten wird, fürs Radio und fürs Internet aufzubereiten. Wir wussten, dass diese wissenschaftliche Edition toll gemacht sein, unheimlich tief gehen und dennoch nur einem relativ kleinen Leserkreis vorbehalten sein wird und haben da eine Chance und auch eine Aufgabe gesehen, als Bayerischer Rundfunk und als Massenmedium, diese wunderbare Arbeit, diese Grundlagenforschung einem sehr viel breiteren Publikum zugänglich zu machen. Das war für mich persönlich ein klarer Auftrag.
Das Projekt bezeichnet sich selbst als „dokumentarische Höredition“. Was heißt das?
Wir haben nach einem Begriff gesucht, der analog und der wissenschaftlichen Edition angemessen ist. Denn wir wollten ja jetzt kein Hörspiel daraus machen – in dem Wort Hörspiel liegt das Wort „Spiel“. Wir haben hier nichts zu Spielen gefunden… Wir wollten aber auch klarmachen, dass es ein akustisches Werk ist. Dass wir um den Begriff der Dokumentation nicht herumkommen, war klar. Und so setzte sich „Dokumentarische Höredition“ dann zusammen.
Wie erfolgt die Auswahl der Texte?
Das ist eine komplexe Frage, denn natürlich gibt es mehrere Kriterien. Man muss sich vorstellen, dass pro Teil ungefähr 300 Dokumente zur Verfügung stehen, aus denen wir 30 auswählen können. Mehr Zeit und Volumen haben wir pro Teil nicht. Es kommt natürlich ganz stark darauf an, womit sich der jeweilige Teil beschäftigt. Ich möchte mal ein Beispiel nennen: In Teil 14 geht es um Südosteuropa und Italien. Das sind unheimlich viele Länder: Italien, Griechenland, Albanien, Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien und die Slowakei, in denen jeweils ein ganz unterschiedliches Geschehen dokumentiert werden muss. Wir müssen da immer sehr genau gucken, welche Dokumente die wichtigen Entwicklungen im Kern treffen. Manche sind sehr kurz und erzählen trotzdem unheimlich viel.
Dann haben wir natürlich auch das Auswahlkriterium, dass wir zwischen sogenannten Täter- und Opferdokumenten eine ausgewogene Auswahl treffen wollen. Wir schauen auch darauf, dass männliche und weibliche Verfasser*innen und auch verschiedene Altersstufen zu hören sind. Wir haben es hier mit unheimlich vielen, bislang unveröffentlichten Dokumenten zu tun, auch wahnsinnig vielen Tagebuchaufzeichnungen, viele von Kindern oder Jugendlichen. Das ist mir auch sehr wichtig, dass viele Dokumente sehr junge Verfasser*innen haben, weil ich sehe, dass die Generation meiner Kinder einen anderen Zugang dazu findet, wenn Kinder oder Jugendliche aufschreiben, was ihnen widerfahren ist.
Wir wollen auch Dokumente aus Ländern, die man nicht zwingend auf dem Schirm hat, veröffentlichen. In diesen Ländern gibt es unheimlich viele Präfekten und Generalkonsule, die immer wieder Meldung an das Auswärtige Amt machen und ganz detailliert Auskunft über beispielsweise die Deportationen von Jüd*innen in diesen Ländern geben. In Zeiten, in denen wir viel von Fake News sprechen, sind solche dokumentarischen Belege, die detailliert über Zahlen Auskunft geben, sehr wichtig.
Warum lassen Sie die Texte teilweise von Zeitzeug*innen und teilweise von Schauspieler*innen lesen?
Als wir 2013 mit der Höredition angefangen haben, haben wir viel herumprobiert, wie wir diese zum Teil wahnsinnig harten, schwierigen, grausamen Texte am besten zum Klingen bringen können. Wir haben festgestellt, dass die beste Herangehensweise ist, die Dokumente so neutral wie möglich lesen zu lassen. Sie sind dann aber gewissermaßen auch sehr abstrakt und wir wollten auf einem ästhetischen Weg einen Link zur Gegenwart einbauen. So sind wir darauf gekommen, einige Opferdokumente von Überlebenden des Holocausts lesen zu lassen.
Der erste, den wir angesprochen haben, war Uri Siegel, ein Holocaust-Überlebender. Wir haben ihn angesprochen, weil es ein Dokument war, wo ein Verwandter von ihm vorkam. Das Telefonat mit ihm werde ich nie vergessen, weil er so unglaublich lebendig und scharfzüngig gesagt hat, dass er dieses Dokument nicht lesen werde, weil hier ein Detail nicht stimme. Es war der Bericht eines Zeugen, der im März 1933 die Misshandlung des Rechtsanwaltes Michael Siegel beschrieb. Uri Siegel las dann den Brief von Amalie Malsch, die in Düsseldorf auf ihre Auswanderung wartete und 1942 im KZ Chulmo (Kulmhof) ermordet wurde. Er sagte dann, er könne mir ja mal erzählen, wie das wirklich war. Es war ganz schnell klar, dass die Zeitzeug*innen selbst so viel zu erzählen haben, dass es eigentlich nur in der Kombination möglich ist: dass sie ihre eigene Geschichte erzählen und dann einem kurzen Dokument ihre Stimme geben. Auf der Website erzählen mittlerweile 80 Zeitzeug*innen ihre Geschichten; eine Dimension, die wir als absolut gleichwertig mit den Dokumenten erachten.
Die Oberfläche ist wenig selbsterklärend. Ist das beabsichtigt?
Wir wollten die Nutzeroberfläche so anlegen, dass man sofort merkt, dass man in einer Art Archiv ist. Das sieht so simpel aus, aber da stecken einige Stunden und Runden mit den Designern drin. Wir haben immer wieder überlegt, wo wir noch mehr reduzieren können. Trotzdem wollten wir Hervorhebungen machen, so kamen wir auf das Drei-Farben-Konzept, was an Textmarker erinnert. Es sollte auf den ersten Blick klar werden, dass wir hier nicht in einer Art Museum, Fotoausstellung oder einer fiktiven Umgebung sind, sondern, dass man sich Dokument für Dokument Geschichtsschreibung anlesen und anhören kann.
Welche Nutzer stellen Sie sich vor und wie ist die gedachte Nutzungssituation?
Wir stellen uns Nutzer vor, die entweder im Radio Gehörtes vertiefen wollen oder bei der Recherche auf unser Projekt stoßen und hier eine Vielzahl von unbekannten, frei verfügbaren Dokumenten finden. Wir bekommen wöchentlich Zuschriften von Menschen, die entweder beruflich oder privat recherchieren und die fragen, ob sie etwas daraus verwenden können. Wir sind auch schon mehrfach von Schulbuchverlagen angeschrieben worden, die Quellendokumente abdrucken wollten. Was ich besonders spannend finde, und überhaupt nicht erwartet habe, ist, dass wir wahnsinnig hohe Zugriffszahlen aus dem Ausland haben. Das hat dazu geführt, dass wir uns überlegt haben die Audios und Texte auch auf Englisch zur Verfügung zu stellen.
Wer ist an dem Projekt beteiligt?
An dem Projekt beteiligte Institutionen sind das Institut für Zeitgeschichte München-Berlin, vertreten durch Professor Susanne Heim, die auch Mitherausgeberin der gedruckten Edition ist, und die Hörspielredaktion des Bayerischen Rundfunks, die von mir vertreten wird. Dann haben wir natürlich Regisseure: Ulrich Gerhardt und Ulrich Lampen. Jeder einzelne Teil wird von mindestens einer Bearbeiter*in von Seiten des Instituts für Zeitgeschichte betreut. Im Falle des Teil 14 waren das sogar vier oder fünf Bearbeiter*innen. Von der Hörspielredaktion gibt es pro Teil auch immer eine Bearbeiter*in, die in Rücksprache mit mir die Auswahl der Dokumente trifft. Dann gibt es natürlich die Schauspieler*innen, die Zeitzeug*innen und weitere Wissenschaftler*innen, die wir zu den Teilen interviewen. Unseren Webmaster, Daniel Rogge, möchte ich auf keinen Fall unerwähnt lassen, er hat mit uns das Konzept der Website entwickelt. Dazu kommt ein Designerduo aus München: Martina Keller und Markus Maurer. In der Redaktion gibt es viele Mitarbeiter*innen, die in den Assistenzen tolle Arbeit leisten. Man kann sich ja vorstellen, wie viel da zusammenkommt, die ganze Logistik dahinter: Aufnahmetermine und auch administrative Arbeit. Dann gibt es natürlich noch die Leute im Studio: Toningenieur*innen, Technik, Regieassistenzen, ohne die natürlich gar nichts geht. Für unsere Verhältnisse ist das ein Riesenpersonal, wahrscheinlich ungefähr vergleichbar mit einem Kinofilm. Für Hörspielproduktionen haben wir sonst immer nur einen Bruchteil dieser Personenpower.
Wie sind die Reaktionen, die Sie bisher bekommen haben?
Wir bekommen wöchentlich Reaktionen, auch wenn gerade keine neue Veröffentlichung stattgefunden hat. Das sind begeisterte Reaktionen, muss ich sagen. Bis jetzt war niemand dabei, der uns geschrieben hat, das braucht es doch bitte alles gar nicht, sondern im Gegenteil: Die Leute bedanken sich und sagen, dass ihre Gebühren gut angelegt sind. Das sind überwältigende Reaktionen, die uns wahnsinnig freuen.
Welches Dokument ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Da gibt es so viele, ich möchte mal zwei rausgreifen. Zum einen den Abschiedsbrief eines rumänischen, jüdischen 18-Jährigen, der zum Tode verurteilt wurde, weil er Geldscheine mit der Aufschrift „Nieder mit dem Krieg“ versehen hat. Kurz vor seiner Erschießung hat er einen unheimlich bewegenden Abschiedsbrief geschrieben, in dem er sich an seine Familie richtet und im Prinzip allen Mut macht und sagt, dass es ihm leidtut, dass er allen Kummer macht. Der Brief hat mich deswegen so bewegt, weil er so extrem angstfrei ist, so klar und weise. Er sagt auch, dass es hier nicht um Mut oder Heldentaten geht, sondern darum, dass man manchmal das Richtige tun muss. Das ist eines dieser Dokumente, die mich wirklich, auch wenn ich es nun wirklich schon oft gehört habe, immer ganz schnell ergreift. Ich weiß nicht genau warum, aber zu dem finde ich keine professionelle Distanz.
Dann gibt es noch ein Täterdokument, was ich auch unglaublich sprechend finde, weil es ganz verdichtet ist und auf engem Raum so viel erzählt. Das ist ein Kommandeur der deutschen Besatzer in Griechenland, der Meldung macht über einen italienischen Zug, der in der griechischen Stadt Thessaloniki im Bahnhof steht. In diesem Zug sind 20 Jüd*innen, die versuchen von Nordgriechenland, was deutsch besetzt war, nach Südgriechenland, was italienisch besetzt war, zu kommen. Dieser deutsche Kommandeur prüft die Papiere und macht dann Meldung. Es ist klar, dass die mit italienischen Papieren in die italienisch besetzte Zone dürfen, aber zwei dann doch nicht, nur deren Kinder. Das Ganze ist eigentlich sehr behördlich, sehr trocken verfasst und trotzdem wird in diesem vielleicht eine knappe DIN-A4-Seite langen Dokument das ganze Ausmaß der Willkür, der Schikane, der Gefahr, der Lebensbedrohung deutlich. Das ist kein Dokument, was einen so direkt angreift wie das von Dan Mihailovici, von dem ich vorhin sprach, aber hier wird, extrem verdichtet auf ein paar Momente, Geschichte erzählt.
Das Interview führten Marie Jakob und Helen Dreyhaupt.
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