Roadtrip durch Polens Grenzregionen
Polen – ein Land, zu dem auch jungen EuropäerInnen oft nur Klischees einfallen: katholische Kirche, Alkohol, Rückständigkeit. Das in der Kategorie Kultur und Medien nominierte The BORDERLINE Project zeigt in sechs Sprachen und Crossmedia-Formaten und mithilfe von grenzübergreifender Berichterstattung, dass Polen europäischer ist als sein Ruf.
Katha (Katharina) Kloss hat das BORDERLINE-Projekt für das europäische und mehrsprachige partizipative Online-Magazin CaféBabel koordiniert. Sie erklärt Hintergründe zur Entstehung des Projekts.
Warum hat sich CaféBabel entschieden, die polnischen Grenzregionen abzufahren?
Das CaféBabel wollte sowieso zum 100-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit Polens ein größeres Projekt machen. Unser Plan waren von Anfang an die Grenzregionen, denn dort treffen auch in Europa noch Welten aufeinander. Dann gab es von der Bundeszentrale für politische Bildung einen Call.
Das Magazin gibt es in mehreren Sprachen, und die polnische Version war leider auch immer die am wenigsten aktive. Wir wollten die Hiobsbotschaften, die uns aus Polen in den letzten Jahren erreichten, hinterfragen.
Habt ihr die Themen nach den Orten ausgesucht, mit Blick auf den Roadtrip?
Weniger nach Themen. Erst einmal haben wir nach interessanten Geschichten geschaut: Das ist ‘ne super Geschichte, das ist ein toller Protagonist, da würde ich draufklicken, das hätte ich Lust zu lesen. Natürlich haben wir dann versucht, aus diesen Artikelvorschlägen irgendwie den Rundumschlag zu bekommen. Wir wollten einen frischen Blick auf Polen werfen. Ist das wirklich ein Land, das politisch so gespalten ist, sein eigenes Borderline-Syndrom hat? Deswegen habe zum Beispiel ich den Artikel zu den ukrainischen MigrantInnen so interessant gefunden. Das ist ein Aspekt, den hat man noch nicht oft gehört: dass die PolInnen auch mit offenen Armen empfangen.
Wie sind die ReporterInnen in Polen vorgegangen? Ins Auto gestiegen?
Ein riesiges Projekt erfordert ein riesiges Konzept, da kann man nicht drauflos fahren. Logistisch war das dann eine ganz gute Challenge für uns (lacht). Es gab einen Call auf CaféBabel, JournalistInnen aus ganz Europa konnten sich bewerben. Bei CaféBabel werden gerne viele Ideen zusammengeführt. Das heißt, auch auf das Projekt BORDERLINE haben sich viele junge JournalistInnen und FotografInnen beworben. Wir haben die Teams so zusammengestellt, dass auch immer eine Person Polnisch konnte. Das war sehr wichtig. Wenn du irgendwelche EuropäerInnen nach Polen schickst, die überhaupt keine Erfahrung mit dem Land haben – dann kommt da auch keine gute Reportage bei rum.
Einige Themen sind schwere Kost – welche Begegnungen waren sehr emotional?
Unsere Dokumentarfilmerin Antinea hat auf ihrer Reise tolle Menschen getroffen. Das ist dann wieder dieser Spontanitätsfaktor, einfach ins Auto steigen. Antinea hat ein lesbisches, italienisch-polnisches Pärchen getroffen. Oder sie hat einen Vertreter der PiS-Partei, der rechtskonservativen Partei, die in Polen die Alleinregierung führt, einen Bürgermeisterkandidaten, getroffen, mit dem man noch einmal eine ganz andere Perspektive einnimmt. Eine ganz intensive Interviewpartnerin ist auch die Vertreterin der Frauen, die den Abtreibungsparagraphen infrage stellen wollen. Wenn du dieser Frau zuhörst – da läuft’s dir kalt den Rücken runter.
Was für Rückmeldungen gab es bei Themen zu Menschenrechten?
Das Thema, das eigentlich international am besten funktioniert hat, waren diese paramilitärischen Trainingslager. Das hat mich im Vergleich mit anderen Themen überrascht.
Dabei muss man sagen, beim Thema „Grindr an der Grenze“ hätte ich auch gedacht, dass da noch etwas mehr Kommentare kommen, weil es auch ein heikles Thema ist und weil Themen, bei denen es um Sexualität geht, immer sehr viel Feedback bekommen.
Inwiefern wolltet ihr polnische LeserInnen mit BORDERLINE ansprechen?
Wir wollten sie insofern ansprechen, als dass wir sagen: „Wir sprechen einfach mal massiv über euer Land!“ Es kommt schon mal das Feedback bei CaféBabel: „Keiner kennt sich in Polen aus, keiner kennt unsere Politik und unsere Gesellschaft.“ Wir wollten einfach mal ein bisschen tiefer in das Land eintauchen. Deswegen denke ich, die Themen, die wir ausgesucht haben, sind welche, die in Polen gerade debattiert werden oder die Leute beschäftigen.
Im Bereich „Die Unsichtbaren – Polen in Zahlen“ liest man vieles, das im Widerspruch zu den Geschichten steht. Wie geht das?
Wir haben versucht, den Einheiten in den einzelnen Themenschwerpunkten noch etwas entgegen zu setzen. „Polen in Zahlen“ gibt auch noch einmal eine Rahmenstruktur für das Projekt vor. Der Daten-Artikel sollte im Grunde die Facetten und die Tiefgründigkeit dieses Landes untermalen. Ich meine, es geht in diesem Artikel auch um Europastudien – viele PolInnen sind begeistert von Europa. Sie haben in den letzten Jahren viel davon profitiert, kriegen natürlich auch Transfergelder. Trotzdem hat man offiziell den Diskurs, dass die PolInnen von Europa nichts wissen wollen – von daher ein interessanter Widerspruch, der auch nicht immer logisch ist.
Der Chefredakteur von POLITICO hat gesagt: „Polen muss auf die Couch, Polen braucht einen Psychologen“, weil es manchmal nicht wirklich verständlich ist. Dass so schizophren mit dem Europäischen Kontinent umgegangen wird, obwohl man in den letzten Jahren ganz gut profitiert hat. Und auch in den nächsten Jahren noch einiges erwirtschaften wird. Das ist eine spannende Region, die man auf jeden Fall im Auge behalten sollte.
Das Interview führte Simone Dahmen
Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen und Seminaren im Bachelor-Studiengang Online-Redaktion an der TH Köln.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!