Einmal Straflager und zurück

Screenshot: Website Spiegel Online "Das dunkle System"
Screenshot: Website Spiegel Online "Das dunkle System"
Screenshot: Website Spiegel Online „Das dunkle System“

Was macht die Haft in einem chinesischen Straflager aus den Inhaftierten? Stefan Schultz und seine Co-AutorInnen Jannika Schultz und Edward Lee haben sich für Spiegel Online auf die Suche nach Antworten gemacht. Entstanden ist „Das dunkle System“, eine beispiellose Mixed-Media-Geschichte, die die Geschichte von drei ehemaligen Häftlingen erzählt. „Das dunkle System“ fesselt die NutzerInnen mit Videos, Grafiken, Animationen und Texten und klärt schonungslos über die grausamen Haftbedingungen sowie die Hintergründe auf.

„Das dunkle System“ ist für den Grimme Online Award 2019 in der Kategorie Information nominiert. Stefan Schultz, Autor und Spiegel Redakteur, spricht im Interview über seine Arbeit an diesem Projekt.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihre Arbeit in dieser Erzählform zu veröffentlichen?

Multimediales Storytelling mache ich seit zehn Jahren. Dabei bin ich regelmäßig mit den verfügbaren Formaten unzufrieden. In vielen Storytellings gibt es Brüche zwischen den einzelnen Medialitäten. Oder der Text steht hierarchisch über allem Anderen. Wir wollten ein Format, in dem Medialitäten logisch ineinanderfließen, daher auch der Name Mixedmedia. Wir hatten dafür kein Vorbild und haben monatelang herumexperimentiert. Die Programmierer waren anfangs von unseren Sonderwünschen ziemlich genervt, aber am Ende hat es ihnen Spaß gemacht, etwas Neues zu probieren

"Das dunkle System"-Autor Stefan Schultz; Foto: Christian Bruch

„Das dunkle System“-Autor Stefan Schultz; Foto: Christian Bruch

Wie lange haben Sie recherchiert?

Wir haben sechs Jahre an dem Projekt gearbeitet, mit Unterbrechungen versteht sich. Meine Frau Jannika, unser chinesischer Kollege Edward Lee und ich sind an alle für die Geschichte relevanten Orte gereist, haben uns mit Ex-Sträflingen, Augenzeugen und unseren späteren Protagonisten getroffen. Die Recherche dauerte fast vier Jahre, da wir tausende chinesische Akten auswerten und übersetzen mussten. Uns war es wichtig, unsere Protagonisten in der Tiefe zu verstehen, die Veränderung ihrer Persönlichkeit und auch die Mechanismen der Straflager genau zu durchdringen. Nachdem das Grundgerüst stand, habe ich den Text geschrieben und das Mixedmedia-Konzept entwickelt.

Gab es für Sie einen prägenden Moment vor Ort?

Mindestens einen. Ich erinnere mich an den Moment, als wir mit Li zu seinem Dorf gefahren sind. Sein Haus steht recht weit oben an einem Hang und ragte noch halb aus dem Stausee heraus. Seit seiner Verhaftung war Li nicht mehr an diesem Ort gewesen. Jetzt benahm er sich, als würde er noch immer hier wohnen: Er ging ins Haus und räumte auf. Ich habe in diesem Moment begriffen, dass Li noch viel mehr verloren hat als seinen Beruf, sein Geld und seine Freiheit. Er war früher selbst ein regimetreuer Polizist. Durch die Vertreibung von seinem Land und die Folter im Lager war sein Weltbild eingestürzt. Er schien nicht mehr zu wissen, wer er ist.

Wen möchten Sie mit Ihrer Reportage erreichen und was erhoffen Sie sich dadurch?

Ich möchte möglichst viele Menschen erreichen. Ich hoffe, dass Nutzer nicht nur kognitiv verstehen, sondern auch emotional nachempfinden können, was das System der Straflager mit den Menschen macht. Und wie verlogen die chinesische Regierung mit dem Thema umgeht. Offiziell wurden die Lager 2013 abgeschafft, in Wahrheit wurden viele Einrichtungen nur umbenannt, und es sind neue, noch perfidere Orte der Unterdrückung hinzugekommen. Es wird viel über den chinesischen Wirtschaftsboom berichtet. Tatsächlich herrscht in China eine Entwicklungsdiktatur auf Kosten der Bevölkerung und der Natur. 

Screenshot: Website Spiegel Online „Das dunkle System“

Hatten Sie irgendwann während der Recherche Zweifel an den Erzählungen der ehemaligen Gefangenen? Wenn ja, wie sind Sie mit diesen Zweifeln umgegangen?

Ich hatte keine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Protagonisten. Aber es gab Themen, bei denen ich das Gefühl hatte, dass sie etwas verdrängt oder sich nachträglich schöngeredet haben. Einer unserer Protagonisten verbrachte eine traumatische Zeit in Einzelhaft.

Alle drei haben sich zudem ein Stück weit auf die korrupten Spiele im Lager eingelassen, um sich zu schützen. Bei solchen scham- und schmerzbehafteten Themen hat es lange gedauert, bis sich die Befragten wirklich öffneten. Wir haben alle Schilderungen, wo wir konnten, von Dokumenten und/oder weiteren Zeugen bestätigen lassen. Wenn die Quellenlage nicht eindeutig war, haben wir das im Text vermerkt. Zu einigen Schlüsselszenen haben wir später Animationen erarbeitet. Diese sind bewusst nicht komplett fotorealistisch, sondern teils surreal. Es gibt schwarze Leerstellen in den Räumen, wir wollen so den stets lückenhaften Prozess der Erinnerung darstellen.

Sind Sie mit Ihren Protagonisten in Kontakt geblieben?

Mit Li hatten wir den häufigsten Kontakt, ihn haben wir nach der Veröffentlichung der Geschichte noch zweimal kontaktiert. Es geht ihm und den anderen gut. Dass die Geschichte jetzt online ist, freut sie. Aber sie machen sich keine großen Hoffnungen, dass sich durch die Berichterstattung etwas in ihrem Leben verbessert. Und in China schon gar nicht.

Das Interview führte Neyna Tigris Parker.

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Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen und Seminaren im Bachelor-Studiengang Online-Redaktion an der TH Köln.

1 Kommentar
  1. Anonymous sagte:

    Erst mal danke an Stefan Schulz und alle Beteiligten für diese umfangreiche Arbeit. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich nichts von dieser Website mitbekommen habe. Die Bilder, Animationen und dieses ganze drum herum ist wirklich sehr beeindruckend. Die Geschichte dieser Menschen hat mich tief berührt. Ich wünsche viel Glück bei der Preisverleihung.

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