Der Wandel nach der Bedrohung
Terror, Naturkatastrophen, Finanzkrisen und Revolutionen – die Menschheit fühlt sich immer wieder bedroht. Der Sonderforschungsbereich 923 an der Universität Tübingen stellt in einem Projekt zwölf Fallbeispiele vor, in denen sich Menschen verunsichert fühlten. Anhand von vier Kernfragen arbeiten sich die Forscher durch mehrere Epochen. Illustrationen, Audios und Videos bringen längst vergangene Bedrohungen wieder ins Leben. Die virtuelle Ausstellung „Bedrohte Ordnungen“ ist für den Grimme Online Award 2019 in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert.
Roman Krawielicki war unter anderem an der Konzeption beteiligt. Im Interview erzählt er über die Hintergründe des Projekts
Was hat Sie dazu bewegt, gerade diese Forschung für Laien zu öffnen und multimedial aufzuarbeiten?
Grundsätzlich bemühen sich ja immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit tollen Projekten darum, ihre Arbeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, von der wir gefördert werden, und unsere Heimatuni in Tübingen bestärken solche Initiativen. Das gesellschaftliche Vertrauen in Forschung ist nicht mehr so selbstverständlich wie noch vor einigen Jahren. Wissenschaft ist aber Teil der Gesellschaft. Dementsprechend sollte sie sich an den Debatten beteiligen, zu denen sie etwas aus ihrer Expertise beitragen kann. Das gilt umso mehr, wenn man wie wir „Bedrohte Ordnungen“ erforscht.
Vor vier Jahren entstand die Überlegung, dass wir unser Forschungsprojekt im Rahmen einer Ausstellung umfassender präsentieren. Bei der Planung haben wir gemerkt, dass sich viele Inhalte im digitalen Raum womöglich noch besser darstellen lassen als in einem realen. Obendrein kann man solch eine virtuelle Ausstellung immer wieder erweitern, was für ein noch nicht abgeschlossenes Forschungsprojekt ja durchaus praktisch ist.
Allerdings mussten wir ein ziemlich entscheidendes Problem lösen, nämlich wie wir das „Mediengefälle“ von modernen und vormodernen Themen begradigen. Während wir bei den einen in Material geradezu ertrinken, gibt es für die anderen oft nur die unvermeidlichen „umgefallenen Säulen“ oder ein paar schlecht zu entziffernde Münzen. Um diese Diskrepanz zu überbrücken, haben unsere Kolleginnen und Kollegen von der Agentur Ditho Design mit fantastischen Illustrationen, Grafiken und Animationen entgegengewirkt, so dass nun alle Projekte gleichwertig zur Geltung kommen und den Mediengewohnheiten der BesucherInnen entsprechen.
Auf Ihrer Website sind zwölf Fallbeispiele zu sehen, die sich vier Dimensionen – Dringlichkeit, Zusammenhalt, Zwang, Wandel – zuordnen lassen. Warum haben Sie sich für diese vier entschieden, inwiefern beschreiben sie die historische Entwicklung?
Die Regler muten ja zunächst wie eine kleine Spielerei an. Dahinter verbirgt sich jedoch ein ganz wichtiges Element unseres theoretischen Konzepts: der Vergleich und das Gespräch zwischen Disziplinen, Epochen und Weltregionen über Menschen und Gesellschaften in existenziellen Stresssituationen.
Die vier Begriffe sind Vergleichskategorien – in Anlehnung an die vier Fragen. In unserer Forschung haben wir festgestellt, dass sich Menschen in Situationen bedrohter Ordnung stets mit denselben Fragen konfrontiert sehen und daher immer auch ablesbare Aussagen über die vier Kategorien treffen. Die haben wir von unseren Autorinnen und Autoren miteinander in Bezug setzen lassen. Wer also an den Reglern spielt, experimentiert in gewisser Weise auch mit dem Modell unseres Sonderforschungsbereichs.
Ihr Sonderforschungsbereich besteht aus 42 Teilprojekten. Warum haben Sie sich für diese zwölf Fallbeispiele in der Menschheitsgeschichte entschieden? Gibt es Gemeinsamkeiten oder auffällige Unterschiede?
Wir haben einen breiten Kriterienkatalog erstellt, um unseren Forschungsverbund so repräsentativ wie möglich darzustellen. Wir wollten aus allen Epochen, aus möglichst vielen Weltregionen und aus unterschiedlichen Disziplinen Beispiele haben. Ein weiteres Kriterium war die Unterschiedlichkeit der dargestellten Bedrohungen. Beispielsweise wussten die Menschen in der sowjetischen Region Kuban kaum von der Bedrohung, die sie umgab. Für die Zeitgenossen der spätantiken Belagerung Konstantinopels hingegen stand die Bedrohung buchstäblich vor den Toren der Stadt.
Insgesamt sind es auf den ersten Blick nicht immer die spektakulären Fälle, an die man bei bedrohten Ordnungen zuerst denkt. Aber es verbergen sich überraschende Geschichten dahinter mit interessanten Anknüpfungspunkten für die Gegenwart.
Gibt es ein Beispiel, das Sie interessierten Laien besonders zur Lektüre empfehlen? Wenn ja, warum?
Natürlich bin ich Fan von allen zwölf. Sehr faszinierend finde ich zum Beispiel auch die Geschichte von der Kirchenreform in den Alpen. Die aufklärerischen Reformen unter Kaiser Joseph II. erreichen ein kleines Kaff in den Alpen, werden aber von der dortigen, traditionalistischen Bevölkerung wütend abgelehnt. Die Dorfgemeinschaft rückt zusammen und lehnt sich gegen jeden auf, der sie von der Notwendigkeit der Reformen zu überzeugen sucht: Pfarrer, Verwalter, Militärs – am Ende sieht die Zentralmacht von der Durchsetzung ihrer neuen Regeln ab und versichert den Wutbürgern, dass alles beim Alten bleibt. Aber nach einer bedrohten Ordnung bleibt nie alles beim Alten. Hier hatte die Dorfbevölkerung gelernt, paradoxerweise ganz im Sinne der Aufklärung, dass sie sich souverän gegen vermeintliche Obrigkeiten behaupten und ihre Rechte einfordern kann.
Was können wir aus den Handlungsmustern der Beispiele in „Bedrohte Ordnungen“ lernen?
Ich glaube, grundsätzlich kann man daraus lernen, dass man vorsichtig sein sollte, was man als Bedrohung beschreibt und dass dieser Alarm Dynamiken auslösen kann, die sich nur sehr schwer kontrollieren lassen. Was das bedeutet, kann man leider aktuell im Brexit-geplagten Großbritannien gut beobachten. Nicht jeder, der „Bedrohung“ brüllt, beschreibt auch einen wirklich bedrohlichen Wandel. Es lohnt sich gelegentlich, kritisch die „Bedrohungen“ unserer Gegenwart zu hinterfragen und zu prüfen, ob und welcher Wandel tatsächlich stattfindet. So ein Bedrohungsalarm kann erst zu einer Bedrohten Ordnung mutieren, wenn sich alle Themen auf diese eine Bedrohung verengen, wenn sich Menschen kollektiv von ihren Bedrohungsängsten leiten lassen und sie das Vertrauen in Mitmenschen und ihren Zukunftsglauben verlieren. Letztere sollten wir also gut behüten und etwas weniger Angst vor den falschen Dingen haben, wenn uns was an dieser Ordnung gelegen ist.
Das Interview führte Asia Lomartire.
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Die Interviews entstanden in medienpraktischen Übungen und Seminaren im Bachelor-Studiengang Online-Redaktion an der TH Köln.
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