Die fehlenden Volksvertreter
Der Bundestag repräsentiert das Volk – in der Theorie. Wie es in der Praxis aussieht hat die „Süddeutsche Zeitung“ mit ihrer datenjournalistischen Recherche „Volk und Vertreter“ herausgearbeitet. Mit Hilfe von öffentlich zugänglichen Daten und einem Fragebogen hat sich herausgestellt, dass viele Personengruppen nicht vertreten sind.
„Volk und Vertreter“ ist für den Grimme Online Award 2018 in der Kategorie Information nominiert. Im Interview spricht Autor Christian Endt über die Hintergründe des Projekts und darüber, ob der Bundestag trotz fehlender Vertreter noch repräsentativ sein kann.
Was war der Anlass dafür, sich mit diesem Thema zu beschäftigen?
Schon relativ bald nach der Bundestagswahl letztes Jahr gab es eine öffentliche Debatte über den Rückgang des Frauenanteils im Parlament gegenüber der vorherigen Legislaturperiode. Es war also eindeutig, dass Frauen im Parlament unterrepräsentiert sind. Dann haben wir uns daraus abgeleitet die Frage gestellt, wer eigentlich noch so unterrepräsentiert ist im Bundestag und in welchen Aspekten er nicht der Bevölkerung entspricht. Genau dieser Frage wollten wir nachgehen.
Wie sah der Fragebogen aus?
Das waren im Wesentlichen die Fragen, die auch in der Auswertung vorkommen. Wir haben die Abgeordneten zum Beispiel gefragt, ob sie auf dem Dorf, in einer Kleinstadt oder Großstadt wohnen, welche sexuelle Orientierung sie haben, ob sie ein Auto besitzen, wie ihre Ernährungsweise ist oder welchen Bildungsabschluss die Eltern haben. Zum Schluss haben wir uns noch den Spaß erlaubt, nach dem Lieblingslied zu fragen.
Wie hoch war der Anteil der Abfragen aus dem Fragebogen und wieviel kam aus den öffentlich zugänglichen Informationen des Bundestages?
Es war so ungefähr 50:50. Es war schon einiges dabei, was quasi schon öffentlich bekannt war, aber vorher noch nie jemand so umfassend ausgewertet hat. Auch für die Vergleichsdaten zur Bevölkerung haben wir keine eigene Befragung gemacht, sondern in Daten recherchiert, die diesen Vergleich hergeben.
Wie wurde das Ergebnis im Internet aufbereitet?
Wir haben relativ lange gebraucht, um die richtige Darstellung und Erzählweise zu finden. Wir hatten einen großem Zahlenwust, wo wir nicht so recht wussten, wie wir das griffig auf einen Punkt bringen können, bis wir dann bei der Darstellung gelandet sind, die wir am Ende verwendet haben. Wir haben einen Longread produziert – in einem eigenen System für Sonderprojekte der „Süddeutschen Zeitung“. Dort erklären wir mit mehreren Infografiken, wie viele Dorfbewohner beispielsweise im Bundestag sind und wie viele es eigentlich geben müsste, um repräsentativ zu sein. Das wird dann in einer Grafik, die an ein Wasserglas erinnert, verschiedenfarbig im Kontrast dargestellt. Der Fokus liegt insgesamt auf den animierten Grafiken ohne Werbung oder eine große Menüleiste.
War für Sie das Ergebnis schon vorauszusehen?
Nur teilweise. Es war für mich klar, dass es zu wenig Frauen im Bundestag gibt oder nicht viele Menschen mit Hauptschulabschluss im Parlament sitzen. Aber andere Sachen fand ich schon überraschend – wie zum Beispiel, dass Dorfbewohner oder Muslime unterrepräsentiert sind. Da hätte ich nicht gedacht, dass da so eine große Diskrepanz ist.
Kann Ihrer Meinung nach der Bundestag trotzdem repräsentativ sein?
Natürlich kann sich der Bundestag auch so, wie er jetzt ist Mühe geben, die Interessen derjenigen zu vertreten, die nicht direkt im Bundestag sitzen, indem man einfach mit diesen Leuten spricht. Das ist sicherlich zum Teil auch möglich, aber ich glaube richtige Repräsentation kann man nur erreichen, wenn die Leute, die von den Gesetzen betroffen sind, auch wirklich in ihrer ganzen Vielfalt im Bundestag vertreten sind und dort selbst ihre Stimme erheben und ihre Belange vertreten können.
Was sollten sich die Politik und die Bevölkerung aus diesem Beitrag mitnehmen?
Ich glaube vor allem die etablierten Parteien können mitnehmen, wie es zum Beispiel dazu kommt, dass die AfD plötzlich so stark ist und wie sie die Leute zurückgewinnen können. Die AfD ist eben sehr stark im ländlichen Raum vertreten; ältere Menschen wählen oft diese Partei. Ich glaube, dass sie das Gefühl haben, in der Politik nicht vertreten zu sein und deswegen so eine Protestpartei wählen. Das können wir auch in unseren Daten sehen. Wenn die Parteien also ein bisschen mehr darauf achten, die ganze Bevölkerung mitzunehmen und sich in ihren eigenen Reihen bunter aufzustellen, dann können sie dem entgegenwirken. Und für die Bevölkerung ist es erst einmal interessant zu gucken, ob sie selbst im Bundestag ausreichend vertreten ist. Wenn ich zum Beispiel ein muslimischer Mensch über 60 mit Behinderung bin, kann ich anhand der Daten unseres Angebots für mich raussuchen, ob meine Interessen vertreten werden und eventuell dazu ermutigt werden, meine Stimme stärker einzubringen.
Das Interview führte Mine Aktas
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Die Videos entstanden im Rahmen der medienpraktischen Seminare des Masterstudiengangs International Media Studies (IMS) der DW-Akademie.
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