Den Gegensatz verstehen
Was passiert, wenn zwei Menschen unterschiedlichster Meinung sich persönlich außerhalb der Filterblase am Tisch gegenübersitzen und darüber reden? „ZEIT ONLINE“ ist mit dem Projekt „Deutschland spricht“ dieser Frage nachgegangen und es hat sich herausgestellt: Wenn wir mehr miteinander reden, unterscheiden sich die Standpunkte vielleicht gar nicht so extrem.
In der Kategorie Spezial ist „Deutschland spricht“ für den Grimme Online Award 2018 nominiert. Philip Faigle, Redakteur bei „ZEIT ONLINE“, erzählt unter anderem im Interview, über welche Themen diskutiert wurde und welches Ziel mit diesem Projekt verfolgt wird.
Welche Idee steckt hinter dem Projekt „Deutschland Spricht“?
Unsere Idee war, eine Art Datingplattform für politische Zwiegespräche zu bauen. Wir haben uns überlegt, wie es wäre, Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Ansichten, die sich im normalen Leben vielleicht niemals treffen würden, miteinander ins Gespräch zu bringen. Wir wollten damit einem Problem begegnen, das wir nicht nur in Deutschland beobachten: Teile der Gesellschaft driften auseinander und haben aufgehört, miteinander zu reden. Das empfinden wir als eine gefährliche Entwicklung. „Deutschland spricht“ war unser Beitrag, daran etwas zu ändern.
Wie wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gefunden?
Wir haben das so organisiert, dass wir eine kleine Box in Artikeln und auf unserer Homepage eingebaut haben. Unsere Leserinnen und Leser konnten darin fünf trennscharfe Ja-Nein-Fragen beantworten. Bei den Fragen ging es zum Beispiel darum, ob Deutschland zu viele Flüchtlinge aufgenommen hat oder ob der Atomausstieg richtig war. Danach konnten unsere Leser weitere Daten wie ihre Postleizahl angeben. Anschließend haben wir dann jene Teilnehmer miteinander zusammengebracht, die die Fragen möglichst unterschiedlich beantwortet hatten, dabei aber möglichst nah beieinander wohnten. Alle Paare haben wir dann gebeten, sich am gleichen Tag, zur gleichen Zeit persönlich zu treffen. Das heißt, wir haben die Leute im Grunde allein anhand ihrer politischen Einstellung „gematcht“, wobei uns wichtig war, dass wir nicht Parteipräferenzen abgefragt haben. Wir glauben, dass das klassische Parteienschema die großen Trennlinien innerhalb der Gesellschaft nicht mehr hinreichend abbildet.
Über welche Themen wurde diskutiert?
Das wissen wir nicht, weil wir nur bei acht von hunderten Gesprächen dabei waren. Aber aus den Feedbacks der Teilnehmer wissen wir, dass vor allem über die fünf Fragen diskutiert wurde. Danach haben viele Paare aber auch über ihre jeweiligen Biographien gesprochen und Gemeinsamkeiten entdeckt.
Wie liefen die Gespräche ab? Kam es auch zu stärkeren Auseinandersetzungen aufgrund der gegensätzlichen Meinungen?
Ein Feedback, das wir sehr häufig bekommen haben, war, dass die Teilnehmer eigentlich extremere Auseinandersetzungen erwartet hatten. In vielen Fällen waren sie überrascht, dass sie mit ihrem Gegenüber doch leichter übereinkommen konnten, als sie vermutet hatten.
Was kann die Leserschaft aus diesem Angebot mitnehmen?
Im besten Fall ein besseres Verständnis für die Position von politisch Andersdenkenden. Wir glauben, dass es einen Unterschied macht, ob ich nur weiß, dass mein Gegenüber der Ansicht ist, dass 2015 zu viele Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, oder ob ich verstehe, warum der- oder diejenige diese Meinung vertritt. Der Dialog mit jemandem, der anderer Meinung ist, scheint nach aktuellem Forschungsstand eine der wenigen Möglichkeiten zu sein, die Dinge noch einmal neu und durch die Augen von jemand anderem zu sehen. „Deutschland spricht“ ist der Versuch, diese Gespräche wieder zu ermöglichen.
Wird das Angebot fortgesetzt oder war es eine einmalige Sache?
Das bleibt nicht einmalig, ganz im Gegenteil. Wir haben nach „Deutschland spricht“ viel gutes Feedback bekommen, auch aus anderen Ländern wie den USA, Japan oder Argentinien. Die Kollegen dort wollten von uns wissen, wie sie so ein ähnliches Format auch in Ihrem Land aufziehen können. Deshalb haben wir den Plan gefasst, eine internationale Plattform aufzubauen, die es im Prinzip jedem digitalen Medium auf der Welt ermöglicht, ein Event wie „Deutschland spricht“ zu organisieren – allerdings mit weniger Aufwand, weil die Software einen Großteil der Arbeit übernimmt. Die Plattform heißt „My Country Talks“ und wird in diesem Sommer fertig werden. Wir bauen das nicht allein, sondern mit rund 20 nationalen und internationalen Partnern, darunter Medien in Norwegen, Italien und Kanada. Unsere Vision ist, das Prinzip von „Deutschland spricht“ auf viele weitere Länder zu übertragen und vielleicht irgendwann hunderttausende Menschen auf der ganzen Welt miteinander ins Gespräch zu bringen. Aktuell testen wir die Plattform in drei Städten. Wenn die Tests erfolgreich sind, wird es am 23. September auch ein zweites „Deutschland spricht“ geben, diesmal allerdings mit vielen weiteren Medienpartnern in Deutschland.
Wie wurde das Angebot in eine Netzöffentlichkeit getragen?
„Deutschland spricht“ gibt es nur wegen der Möglichkeiten des Netzes. Nur online können wir hunderttausende Menschen mit einem so einfachen Fragebogen erreichen. Die Leute treffen sich aber im echten Leben, also offline. Sie chatten nicht, sie telefonieren nicht, sondern gehen ein Bier oder einen Kaffee trinken. Das halten wir auch für das ganz Besondere und vor allem das Wirkungsvollste, weil wir an die echte Begegnung von Menschen glauben, um so Empathie und Einsicht zu schaffen. Die Leute sehen ja bei solchen Begegnungen nicht nur einen Namen oder eine E-Mail-Adresse, sondern einen echten Menschen und seine Biografie.
Das Interview führte Mine Aktas
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Die Videos entstanden im Rahmen der medienpraktischen Seminare des Masterstudiengangs International Media Studies (IMS) der DW-Akademie.
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