Eine journalistische Überzeugungstat
Mehr als 15 Jahre ist es bereits her, dass bei dem Flugzeugunglück von Überlingen 71 Menschen starben. In der multimedialen Reportage „Schmerz“ setzt sich die „Schwäbische Zeitung“ mit diesem Unglück auseinander. Sie berichtet, welche Auswirkungen die Katastrophe in der Region hatte, rekonstruiert die Unglücksnacht und porträtiert russische Angehörige und deutsche Anwohner und die dadurch entstandene Verbindung zwischen ihnen.
„Schmerz“ ist für den Grimme Online Award 2018 in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert. Der stellvertretende Chefredakteur Yannick Dillinger spricht im Interview über die Inhalte der Reportage, die Herausforderung einer regionalen Zeitung solch ein Projekt umzusetzen und wie Angehörige und Betroffene das Angebot aufgenommen haben.
Was war der Anreiz dafür, sich nach über 15 Jahren wieder mit diesem Flugzeugunglück zu beschäftigen?
Es ist so, dass wir als Zeitung vor Ort über dieses Thema wirklich permanent berichten. Wir haben immer wieder geschaut, wie es den russischen Angehörigen und den Menschen, die das damals hautnah miterleben mussten, geht. Deswegen wollte wir ein multimediales Werk schaffen, das dieses Thema in angemessener Darstellung und Tonalität festhält. Damit wollten wir auch noch einmal Anlass dazu geben, sich auszutauschen und den Angehörigen zu zeigen, dass die Opfer nicht vergessen werden. Wir wollten bei diesem Thema ein Ausrufezeichen setzen.
Inwieweit haben Sie einen persönlichen Bezug zu diesem Thema?
Ich komme nicht aus der Region und habe es deswegen damals nicht so nah mitbekommen. Nun bin ich seit neun Jahren hier und habe sehr schnell festgestellt, dass das ein Thema ist, das die Menschen besonders im Bodenseekreis auch heute noch begleitet und beschäftigt. Bei den Menschen hier ist das immer und immer wieder Gesprächsthema – nicht nur in sozialen Netzwerken, sondern auch in persönlichen Gesprächen. Genau deswegen war ich dann auch sehr schnell sehr persönlich in dieses Thema involviert. Meine Frau kommt auch aus dieser Region, sodass es auch in der Familie ständig ein Thema gewesen ist.
Welche Aspekte des Unglücks werden in eurer Website vertieft?
Wir wollten vor allem die Menschen erzählen lassen und nach vorne stellen, die von diesem Unglück besonders betroffen sind. Wir haben im Videointerview einen Angehörigen, der damals sein Sohn verloren hat. Wir haben einen Obstbauern, der nachts nach dem Knall zu seiner Apfelplantage gefahren ist und gesehen hat, wie da die Leichen ganz vieler Kinder in den Bäumen hingen. Wir haben mit einem Mann gesprochen, der heute noch dafür sorgt, dass russische Angehörige und Menschen am Bodensee Austausch finden. Darüber hinaus haben wir das Unglück an sich noch einmal mit einer Videografik rekonstruiert und Hintergrundberichte geschrieben. Der Kern der Geschichte sind aber die Videobeiträge mit den Betroffenen. Der Beitrag, in dem unser heutiger Chef der Lokalredaktion Friedrichshafen im Video erzählt, wie er damals vor Ort berichtet und mit Angehörigen gesprochen hat, sorgte intern in der Redaktion besonders für Rührung.
Ist es problemlos möglich, ein solches Projekt von einer Redaktion einer regionalen Zeitung zu stemmen?
Nein, problemlos schon gar nicht. Wir müssen mit unserer Redaktionsstärke schauen, dass Aufwand und Ertrag im guten Verhältnis stehen. Bei diesem Stück haben wir uns aber ganz bewusst dazu entschieden, mehr Aufwand als sonst zu betreiben, weil wir das Thema möglichst perfekt angehen wollten. Wir wollten nicht, dass da irgendwas technisch hakt oder – noch viel schlimmer – inhaltlich nicht stimmt. Deswegen haben wir uns da für unsere Verhältnisse sehr viel geleistet. Wir mussten das alles auch neben unserem normalen Dienst in der Redaktion machen. Aber Dank des großen Engagements des Teams konnten wir das stemmen. Dieses Stück ist eine journalistische Überzeugungstat und man muss wirklich sagen, dass wir uns dieses Stück geleistet haben.
Was hättet Ihr bei eurer Vorgehensweise anders machen können?
Wir haben natürlich versucht, so ein bisschen daraus zu lernen. Wir haben in der Projektorganisation nicht alles richtig gemacht: Wir hätten zum Beispiel frühzeitiger den Fortschritt besser dokumentieren können oder früher die Idee haben sollen, das Ganze ins Russische zu übersetzen.
Wie war darüber hinaus eure Vorgehensweise?
Wir haben uns im März 2017 erstmals zusammengesetzt. Ich hatte die Idee und trommelte ein mögliches Team zusammen. Da haben wir dann sehr klassisch ein Storyboard gezeichnet und überlegt, welche Aspekte wir überhaupt zeigen wollen und welche Darstellungsform jeweils die Richtige ist. Dann haben wir geschaut, welche Personen wir dafür brauchen und haben uns diese dazu geholt. So sind wir dann Schritt für Schritt vorangekommen: Wir haben Termine und Absprachen gemacht, einen sehr großen Block für die Abnahme, Optimierung und Nachbesserung des Storytellings eingeplant, haben in Russland Partner gesucht und uns dann Gedanken gemacht, wie wir das in Zielgruppen ausspielen können. Dann folgte die Ankündigung auf allen relevanten Kanälen.
Wie wurde das Angebot von Angehörigen und Betroffenen aufgenommen?
Gott sei Dank sehr gut. Wir haben sehr positives Feedback, auch aus Russland, bekommen. Das allerwichtigste für uns aber ist, dass es die Menschen gut aufgenommen haben, die damals betroffen waren und heute noch betroffen sind. Mit so einem Stück kann man nämlich auch in Wunden bohren oder längst verborgenes wieder aufbrechen lassen. Zudem ist diese Geschichte mit großem Abstand das Storytelling, das bei uns am meisten nachgefragt wurde. Aber letztlich sind die Rückmeldungen der Betroffenen für uns das größte Lob.
Das Interview führte Mine Aktas
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Die Videos entstanden im Rahmen der medienpraktischen Seminare des Masterstudiengangs International Media Studies (IMS) der DW-Akademie.
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