Die Sozialen Medien als Panikverstärker
22. Juli 2016: Beim Amoklauf in München tötet der 18-jährige David S. neun Menschen, mindestens 36 weitere werden verletzt. Mehrere dieser Verletzungen kommen bei Massenpaniken in der Münchner Innenstadt zustande, die gut fünf Kilometer vom eigentlichen Tatort am Olympia-Einkaufszentrum entfernt liegt. Wie konnte es zu einer solchen Welle der Panik kommen? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Artikel „Timeline der Panik“ der Süddeutschen Zeitung. Mittels einer aufwendigen Analyse von 113.000 Tweets wird ein Bild der Situation in den Sozialen Netzwerken an diesem Abend gezeichnet, welches Ausgangspunkt für Gespräche mit Urhebern, Augenzeugen und Polizisten ist. Im Rahmen der Nominierung für den Grimme Online Award in der Kategorie „Information“ bietet uns Redakteur Thierry Backes Einblicke in die Entstehung und die Motive des Projekts.
Was war die Intention hinter der Rekonstruktion der Ereignisse drei Monate nach dem Amoklauf in München?
Zunächst muss man meiner Meinung nach verstehen, wie sich die Gesamtsituation in dieser Zeit und besonders an diesem Abend gestaltet hat. Der Amoklauf ereignete sich eine Woche nach dem furchtbaren Anschlag in Nizza, bei dem 86 Menschen ums Leben kamen. Vier Tage vor dem Amoklauf gab es zudem den Anschlag in einer Regionalbahn bei Würzburg, bei dem fünf Menschen teilweise schwer verletzt wurden. Geprägt von diesen Ereignissen war man natürlich darauf gepolt, dass es jederzeit wieder zu einem solchen Anschlag kommen könnte. Und dann ereignet sich dieser Amoklauf und man war sich sicher, dass es nun München treffen würde. Ich selbst war an diesem Abend in der Redaktion und habe über die Sozialen Medien und durch Kollegen, die in der Stadt unterwegs waren, viel von der Angst mitbekommen. Die Bilder von flüchtenden Menschen und über der Stadt kreisenden Polizeihubschraubern sowie die Gerüchte, dass es auch in der Innenstadt zu Schießereien gekommen sei, haben diese Panik natürlich verstärkt. Insgesamt war dieser Abend ein sehr prägendes Ereignis für die Stadt und deswegen war es für uns klar, dass es zu einer ausgiebigen Aufarbeitung kommen musste, insbesondere weil die Informationslage am Abend selber so unglaublich unklar war. Die angesprochene zeitliche Verzögerung kam dann vor allem durch die aufwendige Sichtung und Analyse der Tweets zustande. Denn unser Anliegen war es, die Geschichten, die dieser Abend geschrieben hat, so detailliert wie möglich darzustellen.
Wieso habt Ihr Euch für die Darstellung in Form einer Timeline mit eingebettetem Bildmaterial und Tweets entschieden?
Das war mehreren Aspekten geschuldet. Zum einen ist es so, dass wir Artikel, für die wir große Recherchen anstellen, natürlich auch so ansehnlich wie möglich aufbereiten und gestalten wollen. Immerhin hat das Projekt sechs Redakteure für einen Zeitraum von knapp zehn Wochen beschäftigt. Darüber hinaus gab es sehr viel Bildmaterial im weiteren Sinne, das wir für zeigenswert erachtet haben. Denn die Panik kann man meiner Meinung nach auch nur verstehen, wenn man sich mit den Bildern, Videos und Tweets von diesem Abend auseinandersetzt. Gleichzeitig haben wir bewusst darauf verzichtet, Bilder des Täters zu zeigen, weil wir ihn nicht glorifizieren wollten und weil unsere Geschichte sich nicht mit dem Amoklauf an sich beschäftigt, sondern mit dem, was in Folge der unklaren Nachrichtenlage in der Stadt München passiert ist.
Wie lief die Arbeit an dem Projekt, insbesondere die Sichtung der Tweets, im Detail ab?
Wir haben uns für die Analyse der Beiträge auf Twitter entschieden, da Twitter als öffentliches Netzwerk fast vollständig einsehbar ist. Dabei haben wir zunächst die gut 113.000 Tweets, die im Zusammenhang mit dem Amoklauf standen, in eine lesbare und analysierbare Form gebracht. Diese haben wir im Anschluss nach verschiedenen Themenkomplexen wie beispielsweise unterschiedlichen Gerüchten sortiert. Die für die zentralen Gerüchte relevanten Tweets haben wir uns dann genauer angeschaut und mit Hilfe dieser versucht, die Entstehung und Verbreitung der einzelnen Gerüchte nachzuvollziehen. In diesem Rahmen sind wir auch auf die für uns besonders stellvertretenden und wichtigen Beiträge gestoßen, die im Artikel selbst zu sehen sind. Wir haben aus den Tweets dann die Geschichte destilliert, die wir erzählen wollten. Zuletzt haben wir uns dann in klassischer Recherchearbeit auf die Suche nach den Menschen hinter diesen Geschichten gemacht und mit ihnen über die Ereignisse an diesem Abend gesprochen. Denn diese Eindrücke lassen sich letztendlich nicht in 140 Zeichen wiedergeben.
Du hast bereits die Rolle der Medien an diesem Abend angesprochen. Wie ist diese Deiner Meinung nach zu sehen?
Wie gesagt war ich an diesem Abend selber in der Redaktion. Wir haben einfach unfassbar viele Informationen über die verschiedensten Kanäle erhalten und waren damit beschäftigt, diese zu verifizieren. Die allgemeine Informationslage war an diesem Abend extrem unklar. Selbst die Polizei hatte zunächst Schwierigkeiten, die Lage im Auge zu behalten. Und das ist natürlich eine wahnsinnig schwierige Situation für ein Nachrichtenmedium, denn wir wollen ja eine akkurate Berichterstattung garantieren. Natürlich haben wir an diesem Abend auch nicht alles richtig gemacht. Selbstkritik und allgemein Kritik an den Medien ist sicherlich ein Teil dieser Geschichte. Wenn beispielsweise ein anerkannter Terrorexperte der ARD sagt, es gäbe seinen Informationen nach mehrere Tote in der Innenstadt, dann trägt das sicherlich nicht zur Beruhigung der Lage bei. Deshalb kann man meiner Ansicht nach durchaus sagen, dass die Medien als Verstärker der Panik gewirkt haben. Selbiges gilt für unbedachte User der Sozialen Netzwerke, die Informationen verbreiten, welche sich im Nachhinein als völlig falsch herausstellen.
War es daher auch ein Ziel des Projekts, Social-Media-Nutzer für ihr Online-Verhalten in diesen Situationen zu sensibilisieren? Und wie siehst Du allgemein die Rolle der Sozialen Netzwerke in solchen Gefahrenlagen?
Wir haben schon bewusst versucht, unsere Rekonstruktion nüchtern zu halten und die Ereignisse lediglich zu dokumentieren und nicht zu werten. Wenn es uns aber gelungen sein sollte, den ein oder anderen Leser durch diesen Artikel zu sensibilisieren, dann freut uns das natürlich. Man sollte in solchen empfindlichen Situationen bedacht handeln und nicht sofort jedes Gerücht, das man gehört hat, verbreiten. Natürlich meinen die meisten Leute es nur gut und wollen andere Nutzer warnen oder darauf hinweisen. Aber oft haben sie nur maximal halbrichtige Informationen und in diesen Fällen kann eine Verbreitung kontraproduktiv sein. Ich will die positiven Effekte, die die Sozialen Netzwerke in solchen Situationen haben können, gar nicht außer Acht lassen oder sie insgesamt verteufeln. Aber dieser Abend und auch ähnliches Nutzerverhalten während Anschlägen wie in Nizza zeigen, dass die Sozialen Medien in diesen Ausnahmesituationen eher Verstärker der Panik sind.
Das Interview führten Laura Strupat und Jonas Schmidt.
Die Interviews mit den Nominierten sind im Rahmen eines Medienpraxis-Seminars an der Universität zu Köln entstanden.
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