Das große Stigma der Gesellschaft
Wann gilt man in Deutschland eigentlich als arm? Wie aussagekräftig sind Armutsstatistiken? Das haben sich auch Britta Kollenbroich und Florian Diekmann gefragt und sich für Spiegel Online deshalb auf die Suche nach Protagonisten gemacht, die ihre Geschichten erzählen. Drei Lebensgeschichten, die unterschiedlicher und verblüffender nicht sein könnten, belegen dabei, dass arm nicht gleich arm ist und dass Statistik und subjektives Lebensgefühl nicht unbedingt übereinstimmen müssen. „Was heißt schon arm?“ ist in der Kategorie „Wissen und Bildung“ für den Grimme Online Award 2017 nominiert. Autor Florian Diekmann erzählt im Interview von einem Projekt, welches jeden zum Nachdenken anregen sollte. Es betrifft nämlich uns alle.
Wie entstand die Idee zu dem Projekt? Welche Intention steckt dahinter?
Bei Spiegel Online berichten wir regelmäßig über die Armutsstatistiken, welche nach nur einem einzigen Kriterium gemessen wird – dem Einkommen. Wenn man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, gilt man als arm. Die Einkommensgrenze für alle deutschen Bundesländer ist gleich, egal, ob jemand in München lebt oder auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern, wo die Lebenshaltungskosten geringer sind. Diese Kritik kannten wir. Deshalb hat uns interessiert, ob es noch andere Ansätze gibt, Armut statistisch zu erfassen. Nach unseren Recherchen waren wir verblüfft darüber, wie viele Menschen nach der gängigen Methode als arm gelten, aber gar nicht arm sind. Ebenso gelten viele Menschen auf einmal als arm, die vorher nicht als arm galten. In genau diesen Grenzbereich wollten wir reinschauen und klären, was Armut eigentlich konkret bedeutet und wie sie sich am besten messen lässt.
Wie würden Sie die Art der Darstellungsweise des Projektes beschreiben? Sie benutzen ja eine reiche Palette an audiovisuelle Darstellungsformen. Wieso?
Von Text, über viele Fotos bis hin zu Videos, in denen die betroffenen Protagonisten zu Wort kommen, ist alles mit dabei. Das Wichtigste ist für uns aber die Erkläranimation, um das sehr sperrige und komplexe Thema, wie sich Armut eigentlich bemessen lassen kann, leicht und verständlich darzustellen. Zum Schluss gibt es noch einen interaktiven Teil, in dem jeder Leser selber anhand von den verschiedenen Messmethoden herausfinden kann, ob er vielleicht als arm gilt oder nicht. Der Leser soll einen wirklichen Eindruck darüber bekommen, was es konkret im Alltag bedeutet, mit Armut konfrontiert zu werden, auch wenn man sich nicht als arm fühlt. Das leisten natürlich die Fotos und Videos, in denen die Betroffenen selbst zu Wort kommen, hervorragend. Die Leser verstehen dadurch die Situation besser.
Wie messen Sie hierbei Armut? Anhand von Zahlen oder der persönlichen Einstellung?
Es ist eine Mischung aus beidem. Wichtig ist uns aber, dass diese anderen Formen der Armutsmessung nicht allein auf Gefühl beruhen, sondern es geht schon darum, empirisch statistisch verlässliche Zahlen zu bekommen. Es bringt nichts, nur auf die Antwort der Frage, wie hoch das Haushaltseinkommen ist, zu schauen. Fragen wie „Wie viel Wohnfläche haben Sie? Hat jedes Familienmitglied ein eigenes Zimmer? Wie ist der Gesundheitszustand?“ fließen auch mit ein, wobei es sich natürlich um subjektive Fragen mit subjektiven Antworten handelt. Trotzdem hat diese Form der Armutsmessung nichts mit einer subjektiven Einschätzung zu tun. Sie ist tatsächlich empirisch belastbar.
Wie unterscheiden sich die Protagonisten und ihre Geschichten voneinander?
Uns hat selber überrascht, wie sehr sie sich voneinander unterscheiden und wie gut das zu unserem Projekt gepasst hat. Wir haben bewusst ergebnisoffen nach Protagonisten gesucht. Wir wollten nicht von vorneherein genau definieren, wie die Lebensumstände aussehen, die wir beschreiben wollten und haben deshalb an viele Stellen sehr allgemeine Anfragen gerichtet. Andernfalls besteht die Gefahr, eigentlich nur die Geschichten zu erzählen, die man bereits im Kopf hatte. Im Endeffekt haben wir dann drei bekommen, die sehr exemplarisch für verschiedene Konstellationen stehen. Wir haben jemanden, der nach allen Armutsmessungen arm ist und sich auch arm fühlt. Wir haben eine Frau, die nach der Armutsmessung arm ist, sich aber überhaupt nicht arm fühlt und sagt: „Ich habe alles, was ich brauche, die Menschen in wirklich armen Ländern haben das nicht.“ Und dann haben wir eine Familie, die nach keiner statistischen Definition als arm gelten würde und auch diese sagt, „wir sind natürlich nicht arm“. Aber sie kommen trotzdem gerade so über die Runden, und das auch nur, weil beide Elternteile extrem gut funktionieren. Konkret bedeutet es, dass der Vater zum Beispiel jedes Tag, auch im Winter, 15 Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt und zurück, weil die Familie sich kein zweites Auto leisten könnte. Sie halten ihre eigenen Hühner in ihrem eigenen Garten. Und wenn einer von den beiden Elternteilen nicht so gut funktionieren würde, würden sie mit ihren vier Kindern, die sie inzwischen haben, einige Armutskriterien erfüllen. Insofern unterscheiden sich die Protagonisten sehr stark voneinander.
Benötigt das Thema „Armut“ Ihrer Meinung nach in der heutigen Zeit noch Aufklärung?
Unsere Erfahrung aus der Redaktion durch Leserbriefe oder Kommentarspalten ist, dass es da eine Zweiteilung gibt als Reaktion. Die einen tendieren in die Richtung, dass es zu viel Armut gibt in diesem Land und dass unsere Politik komplett versagt hat. Die anderen tendieren dazu, das Thema komplett zu verharmlosen à la „so lange jemand nicht verhungern muss und ein Dach über dem Kopf hat, gibt es keine Armut in Deutschland“. Beide Haltungen sind verkürzt und falsch. Armut ist ein wesentlich komplexeres Phänomen, als nur kein Geld zu besitzen. Das ist wenigen bewusst. Es ist sehr wichtig, dass es ins Bewusstsein vieler Menschen und nicht nur in die Politik gerät. Erst, wenn den Menschen bewusst wird, was es eigentlich bedeutet, arm zu sein, kann man anfangen, Lösungen zu entwickeln, die den Betroffenen auch wirklich helfen.
Haben Sie mit diesem Projekt ein Ziel verfolgt, welches Sie hoffen, erfüllt zu haben oder noch erfüllen möchten?
Ja, unser Ziel war es tatsächlich, einen Anstoß zu geben, darüber nachzudenken, wie komplex Armut eigentlich ist. Ein bisschen auch vielleicht den Anstoß zu geben, selber zu gucken, ob man nicht in der eigenen Umgebung im Ort persönlich ein bisschen etwas tun kann. Vor allem aber auch im Hinterkopf zu haben, wenn es zum Beispiel jetzt im Bundestagswahlkampf darum geht, die Forderungen und Positionen der Parteien zu vergleichen und sich jedes Mal zu überlegen, ob das wirklich dem schlechter Gestellten in unserer Gesellschaft hilft? Oder ist es vielleicht doch nur eine Forderung ist, die eigentlich wieder nur denjenigen hilft, die stark genug sind und die nicht noch zusätzlich eine Förderung bräuchten?
Das Interview führten Kathrin Krok und Selin Yazicilar.
Die Interviews mit den Nominierten und die Videos sind im Rahmen eines Medienpraxis-Seminars an der Universität zu Köln entstanden.
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