Draußen – Eine Multimedia-Reportage von der Straße
Peter True lebt mit Unterbrechungen seit 2003 auf der Straße. Er ist draußen – aus seinem alten Leben und aus der Gesellschaft. Inzwischen ist er 60 Jahre alt und einer der ältesten Obdachlosen in Bremen. Die Autorin Kathrin Aldenhoff und die Fotografin China Hopson vom Weser-Kurier haben Peter True 24 Stunden lang begleitet. Mit der Multimedia-Reportage „Draußen – 24 Stunden unterwegs mit einem Obdachlosen“ ist es ihnen gelungen, eine intime und stimmige Geschichte zu erzählen, welche die Augenhöhe mit dem Protagonisten wahrt. Peters Tagesablauf wird in Texten, Fotos, Videos und Audios präsentiert und der Leser kann seinen Alltag, seine Probleme und seine Träume sehr persönlich kennenlernen. Dieses Pageflow-Projekt ist in der Kategorie Information für den Grimme Online Award 2016 nominiert. Autorin Kathrin Aldenhoff erzählt im Interview, warum Peters Schicksal sie nicht mehr loslässt.
Was war die Intention hinter der Multimedia-Reportage?
Die Idee dazu entstand bei einer Begegnung mit dem Protagonisten selbst. Die Fotografin China Hopson und ich haben Peter True bei einem Termin zum Thema Wohnungsnot kennengelernt. Er hat mir sehr offen auf meine Fragen geantwortet und ich hatte nicht das Gefühl, dass ich ihm damit zu nahe trete. Im Gegenteil: Ich hatte den Eindruck, dass er sich freut, über seine Situation reden zu können. China Hopson meinte sofort, dass er ein tolles Gesicht zum Fotografieren hat und dann haben wir uns überlegt, dass wir ihn 24 Stunden begleiten wollen, um zu gucken wie der Alltag eines Obdachlosen wirklich ist. Wir wollten nicht nur mal zwei Stunden bei der Essensausgabe dabei sein, sondern so richtig. Er hat zum Glück ja gesagt, obwohl er am Anfang noch Zweifel hatte.
Wie haben Sie den Ablauf der 24 Stunden mit Peter geplant?
Wir wollten nicht so viel vorgeben an Konzept, sondern vom Ablauf her alles auf uns zukommen lassen. Ein paar Eckdaten seines Tages hatte Peter mir schon vorher erzählt. Wir konnten uns also grob darauf vorbereiten und uns überlegen, wo sich ein Video anbieten würde und welche Fotos wir unbedingt brauchen, um die Geschichte erzählen zu können. Es war aber alles von Peters Tagesablauf vorgegeben und ging nicht von uns aus.
Haben Sie und die Fotografin festgestellt, dass sich während der 24 Stunden Stereotype aufgelöst haben?
Ja, das Stereotyp, dass Obdachlose meistens Säufer sind und wenig auf die Reihe bekommen. Peter trinkt zwar sein Bier, aber er hängt nicht besoffen auf der Straße rum. Er ist im Gegenteil sehr informiert, bekommt oft Zeitungen geschenkt und liest sie jeden Tag. Er ist interessiert an aktuellen Themen und an Politik und hat vor allem etwas zu sagen. Das fand ich sehr spannend und es hat mich ein bisschen überrascht. Worüber ich vorher auch nie nachgedacht hatte war, dass Obdachlose natürlich auch ein Leben vor der Obdachlosigkeit hatten. Man sieht meistens nur den augenblicklichen Zustand und nicht das, was dort hingeführt hat. Peter hatte eine Frau, ein Kind, ein Haus, einen Job und schöne Urlaube. Es war für mich erschreckend zu hören, dass er ein ganz normales Leben hatte und jetzt einfach so auf der Straße lebt. Von jemandem, der ein Haus gebaut hat, erwartet niemand, dass er irgendwann auf der Straße landet. Bei ihm kam da aber so einiges zusammen: Dass sich seine Frau von ihm getrennt hat, dass er seinen Job verloren hat, dass er dann viel Geld ausgegeben hat. Das waren bloß wenige Monate bis zur Obdachlosigkeit.
Eigentlich müsste in Deutschland niemand obdachlos sein, denn jeder hat einen Anspruch auf Grundsicherung. Fällt es Obdachlosen schwer, Hilfe anzunehmen?
Das ist tatsächlich eins dieser Stereotype, das sich bewahrheitet hat und war eine Frage, die uns sehr beschäftigt hat. Wieso nimmt er die Hilfe, die es gibt, nicht an? Peter hat zwar eine Zeit lang Hartz IV bekommen, aber die Hilfeleistung ist abgelaufen. Er müsste sie wieder neu beantragen und sich Fragen gefallen lassen. Zum anderen wurde ihm ganz am Anfang, als er auf der Straße übernachtet hat, sein Rucksack gestohlen. Da waren alle seine Ausweispapiere, Dokumente und die Geburtsurkunde drin. Es dauert und kostet natürlich, bis man alles wieder hat. Da hatte Peter einfach keine Lust drauf. Ich meinte zu Peter, dass Behördengänge zwar nervig sind, aber immer noch besser, als draußen zu leben. Aber im Endeffekt ist das seine Entscheidung. Peter ist mittlerweile 60, und weiß, dass er das nicht mehr so lange durchhält und sich eigentlich zusammenreißen und alles ordnen müsste. Er muss es aber selber wollen – erst dann können die Sozialarbeiter ihm helfen. An diesen Punkt tastet er sich so langsam heran.
Peter hat den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Geben ihm seine Freunde unter den Obdachlosen Halt?
Die Familie ist ein Punkt, über den er nicht reden wollte und ich glaube daher nicht, dass die Familienbeziehung sonderlich gut war. Seine Freunde sind aber zum Teil schon Personen, die ihm Halt geben. Sie unterstützen sich gegenseitig. Und es sind nicht alle seine Freunde obdachlos, mit denen er sich am Bahnhof trifft. Manche haben es von der Straße runter geschafft und haben eigene Wohnungen und Jobs. Sie kommen trotzdem noch zu Besuch.
Kommen sie vorbei, um ihren obdachlosen Freunden Mut zu machen?
Ich glaube nicht, dass das der Grund ist, sondern sie die Obdachlosigkeit – so merkwürdig es auch klingt – nicht loslässt. Es gab zum Beispiel den Fall einer Frau, die im November gestorben ist. Aufgrund ihrer schweren Krankheit hatte sie zwar eine eigene Wohnung, aber sie hat trotzdem weiter auf der Straße übernachtet. Das war mir ein völliges Rätsel. Ich habe Peter gefragt, ob es so toll ist, auf der Straße zu schlafen. Er meinte: „Nein, ist es nicht. Aber versuch mal dir vorzustellen, wie es ist, wenn du die ganze Zeit in einer Gemeinschaft lebst und dann hast du auf einmal deine eigene Wohnung und bist da alleine und hast niemanden mehr um dich herum.“ Das ganze Umfeld bindet die Menschen anscheinend. Deshalb kommen sie alle wieder zurück, weil die anderen sie verstehen. Sie kennen sich und ihre Probleme.
Ist der Alltag in der Obdachlosigkeit denn nicht eintönig? Wie behält Peter seine Lebensfreude?
Er hat trotz Obdachlosigkeit seine Momente, in denen es ihm gut geht und er Spaß hat. Seine Freunde und er lachen ja auch miteinander und erzählen sich Geschichten. Da geht es nicht die ganze Zeit darum, warum es ihnen schlecht geht, sondern sie quatschen und verbringen Zeit zusammen. Für Peter ist der Alltag dabei eine Mischung aus Hoffnung und Aussichtslosigkeit. Es gibt Momente, in denen er ganz optimistisch ist und fest an seinen Traum glaubt, es wieder zu schaffen. Und dann gibt es wiederum Momente, in denen er meint, dass er keine Aussicht auf einen Job hat.
Hat Sie denn etwas an seinen Einstellungen oder seinem Verhalten überrascht?
Lustig war der Moment, als wir über das Thema Alkohol gesprochen haben. Er meinte, viele würden erst auf der Straße anfangen zu saufen, bei ihm wäre das aber umgekehrt und er hätte auf der Straße sozusagen aufgehört, weil das ein Warnschuss für ihn war. Aber als wir nach einer Kaffeepause aus der Hilfseinrichtung kamen, zog er ein Bier aus der Tasche. Ich meinte: „Peter, ich dachte du trinkst nicht mehr?“ Er hat trocken erwidert: „Ja, ich habe gesagt ich saufe nicht mehr – aber 6-8 Bier trinke ich schon.“
Was mich außerdem irgendwie überrascht hat war seine wirklich sehr liebe Art gegenüber anderen, denen es schlechter geht auf der Straße. Als wir übernachten wollten und unsere Isomatten ausgerollt haben meinte er nur, „Nee Mädels, die Matten sind viel zu dünn.“ Dann hat er uns eine von seinen Isomatten gegeben, was mir natürlich total peinlich war. Aber es tat ihm gut, dass er sich auch ein bisschen um uns kümmern konnte. Ich war ihm außerdem so dankbar, als ich morgens um halb sechs aufgewacht bin und dringend auf die Toilette musste. Er war schon wach, sah mir mein Problem wohl an und meinte: „Da vorne ist ein Café, das macht schon um halb sechs auf, da kannst du auf die Toilette gehen.“ Sehr verständnisvoll und gar nicht abgestumpft.
Waren Sie froh, als die 24 Stunden vorbei waren, weil die Eindrücke bewegend oder hart waren?
Ja, ich war total froh, duschen gehen zu können nach dieser Nacht da draußen. Und ich wollte mich ausruhen. Im Winter ist das nämlich besonders schwierig. Im Sommer kann man sich im Park auf die Wiese legen, wenn es nicht gerade regnet. Aber im Winter nicht. Es gibt zwar Cafés für Wohnungslose, aber ruhig ist es da auch nicht. Einfach mal irgendwo sein und sich erholen – das ist mir aufgefallen, dass das echt sehr schwierig ist. Es fehlt die Privatsphäre, ein Rückzugsort. Ich fand es so schrecklich, dass die ganze Zeit Leute an einem vorbeigehen. Wir waren so ausgeliefert. Peter meinte aber nur, dass man sich daran gewöhnt.
Übernachten Obdachlose deswegen gemeinsam – damit sie sich nicht ausgeliefert oder einsam fühlen?
Ja, genau. Und damit sie nicht beklaut werden. Es gab leider eine nicht so schöne Folge unserer Berichterstattung. Wir hatten ein Foto von ihm in der Zeitung abgedruckt, auf dem er mit seinen zwei Säcken eine Treppe runterkommt. Ein paar Tage danach habe ich mich mit ihm getroffen und ihm war alles gestohlen worden. Es hat mich echt schockiert, dass jemand einem Obdachlosen, der nichts mehr hat, die Sachen stiehlt. Er war nicht böse auf uns und meinte, das sei halt so. Peter kam schneller drüber hinweg als ich.
Sie haben Peter schon einige Male wiedergetroffen. Wollen Sie die Multimedia-Reportage aktualisieren, falls sich etwas verändert?
Das weiß ich noch nicht so genau. Das kommt auch auf ihn an. Wir haben uns schon ein paar Mal getroffen und es ist für mich klar, dass ich mich weiter dafür interessiere, wie es ihm geht. Letztens meinte er, es gäbe wohl eine Wohnung, die er vielleicht bekommen könnte. Da wäre ich natürlich gerne dabei. Aber ich habe in den 24 Stunden gelernt, dass das alles lange dauert und sich wieder ändern kann.
Den Obdachlosen wird viel von Sozialarbeitern geholfen. Ist die bisherige Hilfe nur eine Symptom- und keine Ursachenbekämpfung?
Viele Obdachlose müssten sicherlich einen Entzug machen. Aber, dass das alle tun, ist unrealistisch. Die Sozialarbeiter nehmen sie daher so an, wie sie sind und geben ihnen als Vertrauenspersonen die Möglichkeit, zu reden und ihre Bedürfnisse zu äußern. Ich hatte am Anfang die Vorstellung, dass man einfach für alle Wohnungen anmietet und es ihnen dann besser geht. Aber so funktioniert Sozialarbeit nicht. Viele kommen mit einer Wohnung und dem Haushalt nicht mehr klar, weil sie jahrelang oder vielleicht noch nie einen Haushalt geführt haben. Man muss ihnen Zeit lassen und sie ihr Leben selber bestimmen lassen.
Hat sich ihre Einstellung gegenüber Obdachlosen nach den 24 Stunden auf der Straße geändert? Nehmen Sie sie jetzt anders wahr?
Schwer zu sagen. Ich hab sie vorher nicht ignoriert oder „selber schuld“ gedacht – dann hätte ich diese Geschichte nicht gemacht. Aber natürlich nehme ich sie jetzt noch einmal anders wahr und frage mich, was für eine Geschichte wohl dahinter steckt, wenn jemand draußen schläft. Vielleicht nehme ich Obdachlose jetzt mehr als individuelle Menschen wahr und nicht nur als homogene Randgruppe der Gesellschaft.
Was bedeutet die Nominierung für den Grimme Online Award für Sie? Wie könnte sich ein Gewinn positiv auf das Projekt oder auf neue Projekte auswirken?
Die Nominierung ist auf jeden Fall eine schöne Anerkennung für uns. Und vielleicht regt sie die Leute dazu an, sich mehr mit dem Thema Obdachlosigkeit auseinander zu setzen. Ich würde mich natürlich unglaublich freuen, falls wir den Preis bekommen sollten. China Hopson und ich haben schon mehrere Projekte zusammen gemacht und dieser Preis könnte weitere solcher großen Projekte ermöglichen. In einer Lokalredaktion ist es ja nicht selbstverständlich, dass man sich so viel Zeit für ein einziges Thema nimmt. Dieser Preis wäre ein Zeichen dafür, dass es wichtig ist, Geschichten auch mal in einer Langform und nicht nur auf 120 Zeilen zu erzählen.
War das mit ein Grund für die multimediale Gestaltung der Reportage?
Ich arbeite sehr gerne multimedial und finde es journalistisch total spannend, mehrere Elemente wie Video und Audio zu verwenden. Es gibt Geschichten, die sich besonders dafür eignen. So eine emotionale und bildstarke Geschichte wie die mit Peter hat man nicht so oft.
Und, dass jemand auch mal übers Scheitern redet und nicht nur über Erfolge.
Genau.
Autorin: Lisa Brinkmann
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Die Interviews mit den Nominierten und die Videos sind im Rahmen eines Medienpraxis-Seminars an der Universität zu Köln entstanden.
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