Jenseits eines Schwarz-Weiß-Bildes: „dekoder“ entschlüsselt Russland
Wir wissen wenig über die russische Gesellschaft oder Russland im Allgemeinen. Das Internetportal dekoder – nominiert für den Grimme Online Award 2016 in der Kategorie Information – möchte „Russland entschlüsseln“. Unabhängige russische Medien werden übersetzt und präsentiert. Damit diese auch verstanden werden, bietet das Portal ausführliche Verlinkungen zu kulturellen oder historischen Hintergründen und Erläuterungen von Begriffen. Dekoder stellt an sich selbst sowohl einen journalistischen, als auch einen wissenschaftlichen Anspruch, um ein differenziertes und korrektes Bild von Russland aufzuzeigen. Zu diesem Zweck erstellen Wissenschaftler verschiedener Universitäten eigens für diese Seite Artikel, die Hintergründe erklären. Das folgende Interview mit Martin Krohs, Gründer und Herausgeber von dekoder, ermöglicht einen Einblick in das Konzept und in die Philosophie dieses Projekts.
Wie und wann ist die Idee für dekoder entstanden?
Das war Ende 2014 im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise. Damals ist Russland wieder zu einem großen Thema in der deutschen Presse geworden und die Emotionen in den Diskussionen sind sehr hochgekocht. Es kamen drei Faktoren zusammen: In den Medien sind häufig Experten aufgetaucht, die in Streitgespräche eintraten. Für den Leser oder Fernsehzuschauer war es häufig nicht klar, wie kompetent diese Experten sind und woher diese kommen. Das war ein Faktor, bei dem ich damals das Gefühl hatte, dass man da eigentlich eine Art Referenz herstellen muss, wo man Genaueres über Russland erfahren kann. Der zweite Faktor war, dass in dieser Zeit viele Stimmen aus Russland überhaupt nicht hierhergedrungen sind. Es gab natürlich viele offizielle politische Statements, aber aus dem Inneren der Zivilgesellschaft kamen wenige der vielen verschiedenen Stimmen die es dort gab, hervor. Und ein dritter Faktor in dieser Zeit war das Misstrauen, das allgemein in die etablierte Presse gesetzt wird und das häufig nicht begründet ist. Mir wurde klar, dass eine Lücke in der Medienlandschaft herrscht, was das Thema Russland angeht. Es bestand die Notwendigkeit, diese Stimmen aus dem Land zu zeigen und Kompetenz zu diesem Thema zu bieten.
Inwiefern waren Sie dafür prädestiniert, dekoder zu gründen?
Ich habe zehn Jahre lang in Russland gelebt, mich journalistisch betätigt und einen Buchhandel gegründet. Seit meiner Rückkehr nach Deutschland habe ich Russland nie wirklich verlassen. Ich lebe hier in einem Umfeld mit sehr vielen Russen und bin auch häufig in Russland. Das ist natürlich ein Faktor, der mich das Augenmerk verschärft auf die Russland-Wahrnehmung legen lässt. Dazu kommt, dass ich von der Ausbildung her Philosoph bin und mich diese Frage der Wahrheit, „Was ist überhaupt wahr, was wir in den Medien hören und womit wir täglich konfrontiert werden“ persönlich sehr aufwühlt. Wie kommt es dazu, dass meine russischen Freunde und ich teilweise ganz andere Dinge – auch kritische Dinge gegenüber der russischen Regierung – aus Russland hören? Wie findet man sich in all dem zurecht?
Der Name dekoder nimmt Bezug darauf, dass russische Texte übersetzt werden – nicht nur im rein sprachlichen, sondern auch im kulturellen Sinne. Welche Intention verfolgen Sie?
Das Stichwort haben sie schon benannt: „dekodieren“. Wenn man sich unsere Seite ansieht, dann besteht diese aus zwei Schienen – einmal der journalistischen und einmal der wissenschaftlichen Seite. Wir lassen beides ineinander greifen wie zwei Zahnräder, die sich gemeinsam drehen können. Erreichen wollen wir damit, dass die Originalbeiträge die wir aus den russischen Medien übersetzen, auch für Leser die sich nicht mit Russland auskennen, verständlich sind. Es gibt immer Begriffe die hier nicht bekannt sind, oder anders verwendet werden. Dies kann man auf unserer Seite wie in einer Maschine darstellen lassen. Man kommt auf einen Begriff, der vielleicht problematisch ist und es geht eine kleine Erklärung auf. Wenn man noch mehr wissen will, kann man den ganzen Artikel dazu öffnen.
Was versteckt sich hinter der Schreibweise des Namens?
Das Logo wurde von dem hervorragenden Moskauer Schriftdesigner Ivan Velichko gestaltet. Wir verwenden bewusst sowohl kyrillische wie lateinische Buchstaben und schreiben uns auch mit „k“, weil es in der Transkription aus dem Russischen kein „c“ gibt. Und der Strich auf dem „o“ soll auf die deutsche Aussprache des Wortes hinweisen. Es besteht auch die Assoziationsmöglichkeit, sich diesen Strich als einen Hebel in einem Maschinenwerk vorzustellen: dekodieren nach links, dekodieren nach rechts. Zusammenfassend soll unser Logo das Balancieren zwischen diesen zwei Kulturen ausdrücken.
Wie entscheidet das Team welche Artikel aufgenommen werden. Welche Kriterien werden hierbei bedacht?
An allererster Stelle steht Qualitätsjournalismus. Wir suchen immer nach wirklich gut recherchierten und argumentierten Artikeln. Die Quellen sind grob gesagt aus dem liberalen und demokratischen Sektor in Russland. Es ist eine bewusste Entscheidung diesen Sektor darzustellen, der von den offiziellen russischen Kanälen nicht nach Europa übertragen wird. Weiterhin stellen wir russische Quellen dar, die wir selber lesen. Unsere Redaktion ist ein internationales und interdisziplinäres Team. Wir haben Leute aus der Wissenschaft und Journalistik dabei und scannen alle auch privat jeden Tag das russische Internet. Wir schauen uns die Diskussionen in den sozialen Medien an. Wer macht gerade was? Was erhitzt die Gemüter in Russland? So kommen wir eben auf die entsprechenden Themen, die wir abbilden wollen.
Mit dekoder wollen Sie einen unparteiischen, unverfälschten Russland-(Über)Blick schaffen, ohne dabei eine eigene Meinung darzustellen oder zu propagieren. Wäre es hierbei nicht wichtig, neben den unabhängigen Medien die Sie verwenden, auch die Staatsmedien mit einzubeziehen?
Das ist tatsächlich ein ganz wichtiger Punkt, an dem wir dran sind. Bisher haben wir diese staatsnahen Medien eigentlich nur indirekt abgebildet, in der Art und Weise, wie sie in den unabhängigen Medien dargestellt werden. Wir erneuern jetzt aber gerade ein Format auf der Website, nämlich die Presseschau. In den neuen Ausgaben können Sie schon sehen, dass wir längere Zitate aus den Staatsmedien bringen – neben denen aus den unabhängigen Medien. Man kann dort auch umschalten und sich diese Ausschnitte auf Russisch ansehen, und es gibt kurze Einordnungen zu den Quellen. Wir haben ja keine Lizenzen, um ganze Artikel aus den staatsnahen Medien zu übersetzen, aber wir können trotzdem Auszüge zitieren. Insgesamt soll die Entwicklung auf dekoder auch dahin gehen, dass wir den Diskurs in Russland noch vollständiger darstellen.
Sie wünschen sich, dass der dekoder zu einer Anlaufstelle zum Thema Russland wird. Weiterhin wollen Sie die Internetseite gerne auch für eine breitere Masse zugänglich machen, indem Sie eine englische Version zur Verfügung stellen. Gibt es hierzu Neuigkeiten?
Das ist unser langfristiges Ziel. Dieser Schritt zum Englischen ist sehr wichtig, denn wir wollen, dass diese Stimmen und die Kompetenz aus den Instituten die wir sammeln, wirklich bei vielen Lesern ankommen. Für uns ist das in vielerlei Hinsicht ein Ressourcenproblem, hinsichtlich der finanziellen sowie personellen Ressourcen. Wir haben die Augen offen, wo die möglichen Partner im englischsprachigen Bereich wären. Davor stehen jedoch Hürden die letztlich mit unserer Größe zusammenhängen. Wir brauchen dafür mehr Kapazität.
Inwiefern ist, in Anbetracht Ihrer Ziele, die Nominierung für den Grimme Online Award 2016 für dekoder wichtig?
Das war für uns eine komplette Überraschung. Wir wussten gar nicht, dass wir in dieser Vorschlagsliste standen und mussten das erstmal verdauen. Schon die Tatsache an sich, dass der Grimme Online Award uns wahrgenommen und in diese Stufe der Nominierung reingebracht hat, ist ein Ansporn. Weiterhin ist dies auch für die Suche nach Partnern für das englischsprachige Projekt oder für die Suche nach Medien- und Finanzierungspartnern hier in Deutschland ein gewaltiges Plus.
Autoren: Richard Müller, Sona Petrossian
Die Interviews mit den Nominierten sind im Rahmen eines Medienpraxis-Seminars an der Universität zu Köln entstanden.
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