„Big Data“ auf der Bühne

Lisa Heinrici, Daniel Christensen, Ines Krug, Jan Pröhl in der Uraufführungsinszenierung „Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data“ (UA) von Hermann Schmidt-Rahmer; Regie: Hermann Schmidt-Rahmer

Beklagte Grimme-Direktorin Dr. Frauke Gerlach mit Blick auf die diesjährigen Einreichungen für den Grimme Online Award noch: „Es fehlen die herausragenden Angebote zu aktuellen Themen wie beispielsweise der Überwachung.” So muss man fest stellen: Auf der Theaterbühne ist (Big Data und) die Überwachung als Thema angekommen – mal mehr, mal weniger herausragend umgesetzt: Vor kurzem durften wir noch das transmediale Event „Supernerds“ auf diversen Kanälen – auf der Bühne des Kölner Schauspiels, im Radio und TV sowie in diesem Internet (per Social Media #supernerds) – erleben, was dramaturgisch als eine mal mehr, mal weniger lahme Veranstaltung gewertet wurde und sich vielfach in eher effekthascherischen, technischen Spielereien erging und am Ende auf ein eher zähes Theatervergnügen hinaus lief. Nicht so das neues Projekt von Hermann Schmidt-Rahmer, das seit dem 3. Oktober im Essener Grillo-Theater läuft: „Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data“.

Dokumentarisches, (Science-Fiction-)Literatur und groteske Comedy-Elemente werden hier zu einer pointierten Szenenfolge ohne Zeigefinger-Belehrungen verknüpft, in der die Grenzen zwischen real existenter Technologie und wahnwitzigen Zukunftsvisionen fließend verlaufen. Wie in einer Sitcom sitzen (in der Eingangsszene) da schon mal ein verbiesterter Cybervisionär – Daniel Christensen wunderbar als Jaron Lanier – auf dem Wohnzimmersofa, während die fleischgewordene Android/Windows-Assistentin (Raphaela Möst als „digitaler Schatten“ Raphaela) Hautkontakt zur desinteressiert-internetsüchtigen Tochter aufnimmt (Lisa Heinrici als Lisa). „Wir leben post-privacy“, wird nicht nur der mürrische Büroangestellte Holger (dargestellt von Thomas Büchel) einsehen müssen! Selbst renitente Hausfrauen sind gezwungen, sich der virtuellen Realität zu ergeben (Ines Krug als Mutter), während unterdessen Big Baby Data (dargestellt von Jan Pröhl) glucksend seine kontinuierliche Fütterung genießt und der Zalando Postmann (dargestellt von Tobias Dömer) Dinge unbeauftragt und doch irgendwie „passend“ zustellt – Big Data sei Dank.

Lisa Heinrici, Daniel Christensen, Ines Krug in der Uraufführungsinszenierung "Ich habe nichts zu verbergen - Mein Leben mit Big Data" (UA) von Hermann Schmidt-Rahmer; Regie: Hermann Schmidt-Rahmer

V.l.n.r.: Lisa Heinrici, Daniel Christensen, Ines Krug in der Uraufführungsinszenierung „Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data“ (UA) von Hermann Schmidt-Rahmer.

Theater vertraut sich, selbst wenn die Bildschirme flimmern

Klare Stärke des Stücks und spannend für die Zuschauerinnen und Zuschauer: Theater verlässt sich hier vor allem auf sich selbst und verliert sich nicht in medialen Nebenschauplätzen. Statt dessen wird Big Data (und Überwachung) für unterschiedliche Lebensbereiche mit den dramaturgischen Mitteln des Mediums Theaters durchdekliniert – das private und das berufliche Leben, die Kulturproduktion und anderes mehr. Manchmal geht es dafür in den Zuschauerraum und natürlich flimmern immer wieder die Bildschirme auf der Bühne – Theater geht heutzutage kaum noch ohne, wobei es dieses Mal sicher das Sujet nahe legt.

Am Ende stellt sich die Frage: Was wird eigentlich aus all den netten, von uns „Usern“ bereitwillig zur Verfügung gestellten Informationen, wenn sie miteinander in Beziehung gesetzt werden? Für Krankenkassen, Lebensversicherer und viele andere wissenshungrige Firmen und Institutionen ergeben diese ein umfassendes Bild unserer Aktionen, unserer Aufenthaltsorte, unseres mehr oder weniger gesunden Konsumverhaltens, unserer großen und kleinen Laster – kurzum: unserer gesamten Persönlichkeit. Sogar ein Blick in die Zukunft wird möglich: Wir erhalten Antworten auf Fragen, die wir noch gar nicht gestellt haben. So werden die Algorithmen zu den wahren Göttern der Gegenwart und Daten mutieren zum Gold des 21. Jahrhunderts.

Aber nicht nur die Angst vor Terror, unsere Offenherzigkeit und unsere Bequemlichkeit sind schuld. Schuld trägt auch die Open-Source-Bewegung und ihre naive Ideen der Transparenz und der umfassenden Zugänglichkeit aller Daten, die letztlich einen Beitrag zur Errichtung eines supranationalen Überwachungssystems leisten und jeden von uns zum Überwacher macht – seiner selbst und seines Umfelds, selbst wenn es teilweise aus hehren Absichten geschieht. Subversive Strategien Einzelner – quasi als Gegenmaßnahme – erscheinen da nur noch lächerlich. Ein gewisser Fatalismus ist Hermann Schmidt-Rahmers Stück am Ende nicht abzusprechen.

Thomas Büchel, Daniel Christensen, Lisa Heinrici (liegend) in der Uraufführungsinszenierung "Ich habe nichts zu verbergen - Mein Leben mit Big Data" (UA) von Hermann Schmidt-Rahmer; Regie: Hermann Schmidt-Rahmer

V.l.n.r.: Thomas Büchel, Daniel Christensen, Lisa Heinrici (liegend) in der Uraufführungsinszenierung „Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data“ (UA) von Hermann Schmidt-Rahmer.

Derzeit feststehende weitere Termine: 8., 15., 23. Oktober, 7., 14. November 2015, jeweils 19:30 Uhr, Grillo-Theater, Kartenvorverkauf: TicketCenter der Theater und Philharmonie Essen, Tel.: 0201/81 22-200, oder online unter www.schauspiel-essen.de

REDEN VON MORGEN

Ergänzend zum Stück „Ich habe nichts zu verbergen – Mein Leben mit Big Data“ – und darüber hinaus – präsentiert das Schauspiel Essen in Kooperation mit der Volkshochschule Essen die Vortrags- und Diskussionsreihe “REDEN VON MORGEN”. Eingeladen sind Wissenschaftler/innen, Politiker/innen, Philosophen/Philosophinnen, Theologen/Theologinnen, Trendforscher/innen und weitere interessante Redner/innen, um ihre Ideen von morgen, ihre Visionen und Theorien vorzustellen. Die Gastredner/innen greifen in Anlehnung an den Spielplan des Schauspiel Essen und das Semesterprogramm der Volkshochschule aktuelle Themen und Problematiken zunächst in einem Vortrag auf, um dann gemeinsam mit dem Publikum über Status quo, Veränderungen und Perspektiven zu diskutieren. Am Sonntag, den 25. Oktober 2015, 11:00 – 13:00 Uhr, im Schauspiel Essen, Café Central, spricht bspw. Prof. Dr. Stefan Selke über „Lifelogging und unser Leben mit Daten – Streifzüge durch die Welt der Selbstvermessung“.

1 Kommentar
  1. HS sagte:

    Das Thema hat acht Jahre später, im Jahr 2023 nichts an Aktualität verloren. Die „Schuld“ der Open-Source-Bewegung muss ich allerdings zurückweisen. Hier gibt es die klare Devise „öffentliche Daten nützen, private Daten schützen“ (gemäß der Hackerethik https://www.ccc.de/de/hackerethics). Transparenz bei Daten bezieht sich immer auf öffentliche Daten, niemals auf die Aufgabe der Privatsphäre.

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