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Die Entscheidung über das Leben

Screenshot „Wer darf leben?“

Die medizinische Entwicklung eröffnet uns stets neue Möglichkeiten: Wirksamere Medikamente, die Optimierung von Operationstechniken und Therapieverfahren ermöglichen es uns, unseren Gesundheitszustand zu verbessern. Zugleich stellen uns diese Entwicklungen vor schwierige Entscheidungen – so im Falle der Pränataldiagnostik: Schwangerschaftsabbruch oder ein möglicherweise schwer behindertes Kind zur Welt bringen? Die für den Grimme Online Award 2015 nominierte Webreportage „Wer darf leben?“ thematisiert den Konflikt, dem sich werdende Eltern stellen müssen. Dagny Lüdemann, Autorin und Ideengeberin des Projektes, will mit Ihrem Webangebot zu einer besseren Aufklärung beitragen.

Wie kam es zum Projekt „Wer darf leben„?

„Was, eins zu vierzig?!“ Seitdem Freundinnen von mir zum ersten Mal schwanger wurden – und keine war zu diesem Zeitpunkt jünger als 34 – habe ich immer wieder den Schock miterlebt, wenn sie erfuhren, wie hoch ihr statistisches Risiko sei, ein Kind mit Down-Syndrom oder einer ähnlichen chromosomalen Besonderheit zu bekommen. Fast allen wurde vom Frauenarzt ein Test nahegelegt. Allein wegen ihres „hohen“ Alters. Erste Reaktion: „Ich hätte nie gedacht, dass es so ein realistisches Risiko ist“. Zweiter Gedanke: „Wo sind die ganzen Kinder mit Down-Syndrom?“ In unserm Umfeld gab es reihenweise Erstmütter jenseits der 40 mit gesunden Kindern, nicht selten mit Zwillingen. Keine hatte jemals einen Abbruch wegen einer Behinderung erwähnt.

Die Einführung des PaenaTests in Deutschland hat eine Debatte losgetreten: Wer darf leben? Wer entscheidet das? Werden künftig Menschen aussortiert? Der Zeitpunkt schien perfekt, dieses politisch aktuelle Thema groß anzugehen.

Werdende Eltern werden vor eine weitreichende Entscheidung über die Zukunft ihres ungeborenen Kindes gestellt: Schwangerschaftsabbruch oder Leben mit einer Behinderung. Wie ist Ihre Haltung zur Pränataldiagnostik?

Grundsätzlich halte ich es für einen medizinischen Fortschritt, dass Tests auf bestimmte angeborene Behinderungen heute früher und mit weniger Risiko möglich sind. Man hat auch bisher Föten etwa auf das Down-Syndrom getestet – wenn werdende Eltern das wollten. Allerdings kann die dazu nötige Fruchtwasseruntersuchung eine Fehlgeburt auslösen. Ein Risiko, das beim Bluttest nicht besteht. Allerdings habe ich im Laufe der Recherchen für „Wer darf leben?“ festgestellt, dass Schwangere und ihre Partner in Deutschland häufig zu ungenau oder gar nicht darüber aufgeklärt werden, welche Tests in der Schwangerschaft dem Wohl des Babys dienen und wann es allein um das Auffinden einer möglichen Behinderung geht.

Ich denke, die Aufklärung müsste verbessert werden, „älteren“ Schwangeren sollte nicht per se zum Test geraten werden, nur weil ihre statistische Wahrscheinlichkeit für ein Baby mit einer angeborenen Behinderung erhöht ist. Ich würde Paaren raten, sich vorher klar zu machen, was das Test-Ergebnis bedeuten kann und ob sie die dann nötige Entscheidung treffen wollen und können.

Ich hoffe, dass wir mit unserem Dossier zur Aufklärung beitragen können und werdenden Eltern eine Hilfestellung bieten – ohne vorzuzeichnen, was unserer Meinung nach richtig oder falsch ist.

"Wir haben unseren Sohn getötet"

Screenshot-Ausschnitt „Wer darf leben?“

Bringen Sie uns bitte kurz Ihre Arbeitsweise etwas näher. Wie sieht Ihre tägliche Arbeit aus?

Im Wissenschaftsressort von ZEIT ONLINE arbeiten wir täglich an Nachrichten und Hintergründen. Neben aktuellen Ereignissen, wie Grippe, Fukushima oder die Rosetta-Mission widmen wir uns großen Themen, die für viele Menschen von Bedeutung sind. Alzheimer- und Krebsforschung, Drogenkonsum, gesunde Ernährung oder psychische Krankheiten sind solche Themen. Live-Blogs zum aktuellen Nachrichtengeschehen, Videobeiträge, Interviews, Kommentare, Social-Media-Postings und Umfragen gehören ebenso zu unserer Arbeit wie die intensive Recherche an Reportagen und Longform-Dossiers, wie etwa „Wer darf leben?“.

An „Wer darf leben?“ haben die Wissenschaftsredakteure Sven Stockrahm, Alina Schadwinkel und ich monatelang gemeinsam gearbeitet – zusammen mit einem Schwarm an Kollegen aus den anderen Abteilungen. Die Welt drehte sich natürlich weiter – während der Recherchen haben wir zum Beispiel weiterhin täglich über den Ebola-Ausbruch in Westafrika berichtet.

Was bedeutet die Nominierung für den Grimme Online Award für Sie?

Ich freue mich besonders über die Nominierung, weil die Nominierungskommission sich hierbei ausdrücklich auf die Version in Leichter Sprache bezieht. Diese Sprache nutzen Menschen mit Leseschwierigkeiten. Wir haben während unserer Arbeit an dem Projekt schnell gemerkt: Die „leichte Sprache“ ist für jeden Leser attraktiv, ganz besonders, wenn komplexe wissenschaftliche Fakten erklärt werden. Ich bin sehr froh, dass ich an irgendeinem Punkt im Laufe der Recherche auf die Idee gekommen bin, das komplette Dossier zusätzlich in leichter Sprache zu veröffentlichen. Dank der Übersetzerin Anne Leichtfuß aus der Redaktion des Magazins Ohrenkuss ist das wunderbar gelungen, einschließlich der Grafiken, die wir dafür umgebaut haben. Die Beschäftigung damit hat uns Wissenschaftsautoren übrigens auch sehr geholfen, den Text in herkömmlicher Sprache verständlicher und anschaulicher werden zu lassen. Zudem freue ich mich, dass so wichtige Themen, wie die Folgen der Pränataldiagnostik und die Frage, wie unsere Gesellschaft mit Behinderung umgeht, durch die Nominierung weitere Aufmerksamkeit erhalten.

Wie könnte sich ein Gewinn des Grimme Online Award positiv für das Projekt „Wer darf leben“ auswirken? Was erhoffen Sie sich auch in Hinblick auf potenzielle neue Projekte?

In dem Projekt stecken unglaublich viel Teamarbeit, Liebe zum Detail und schlaflose Nächte. Während der Arbeit gab es aber durchaus Momente, in denen wir ganz Grundsätzliches umschmeißen und radikal neue Wege einschlagen mussten. Aber all das hat sich gelohnt, finde ich.
Zudem haben uns die emotionalen Erlebnisse der Menschen, die wir in dieser Zeit kennen gelernt haben, tief berührt – etwas, das uns in Zukunft in unserer Arbeit begleiten wird. „Wer darf leben?“ war nicht einfach nur ein Job. Nach alledem würden wir uns einfach erst einmal riesig über so eine Auszeichnung freuen. Ich finde nämlich auch: Es ist super geworden. Eine Auszeichnung für etwas, das in einem deutschen Leitmedium in leichter Sprache erschienen ist, wäre zudem ein schöner Anstoß zu mehr Inklusion: Warum schreiben wir Journalisten nicht öfter so, dass uns wirklich jeder verstehen kann?

Im Video erzählt Sven Stockrahm, Mitautor von „Wer darf leben?“ über das Projekt:

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