Bekanntgabe der Nominierungen: Diesmal mit noch mehr Enthüllungen und etwas Irritation

Frauke Gerlach, Direktorin des Grimme-Instituts; Foto: Grimme-Institut / Jens Becker

Wie jedes Jahr hatte das Grimme-Institut alle Nominierten und Interessierten zur Bekanntgabe der Nominierungen zum Grimme Online Award 2015 eingeladen. Und wie jedes Jahr waren fast alle Nominierten da – um von ihren Angeboten zu erzählen, von den anderen zu hören und miteinander ins Gespräch zu kommen. Doch diese Bekanntgabe der Nominierungen für den #GOA15 war irgendwie anders: Sie fand an der Universität zu Köln statt, also erstmals im universitären Umfeld, und unter deren Einbeziehung, was den Ablauf nicht unbedingt irritierte, aber doch auch für Irritationen sorgte – aber davon mehr zum Schluss. Wobei: Für Irritationen und Enthüllungen sorgten auch andere.

Den Anfang macht aber Prof. Dr. Claudia Loebbecke die zum Juni die wissenschaftliche Leitung des Grimme-Forschungskollegs übernehmen wird und in ihrer Begrüßung lobt „Ein schöner inhaltlicher Auftakt!“, während die Grimme-Direktorin Dr. Frauke Gerlach eher nüchtern feststellt: „Mit rund 1.400 Einreichungen ist der Grimme Online Award von ungebrochener Attraktivität. Was fällt dabei auf? Die Professionalität im Netz ist beachtlich –viel Multimedia, die Fotografie ist nicht tot und es finden sich gute Texte, die vielfach von hoher Sorgfalt bei der Recherche und Erstellung zeugen. Aber es fehlen die herausragenden Angebote zu aktuellen Themen wie beispielsweise der Überwachung oder auch dem Freihandel. Auch konnten die die vielen Einreichungen zu historischen Ereignissen letztlich nicht überzeugen.“

Eine Meinung, die Moderatorin Brigitte Baetz teilt, die auch Mitglied der Nominierungskommission war und ist und die eingegangenen Vorschläge gesichtet hat. Die Angebote stellten  jeweils Friedrich Hagedorn und Vera Lisakowski aus dem Projektteam vor. Für Hagedorn ist es der letzte Preisjahrgang, er wird nach dem 15. Durchgang in diesem Jahr ausscheiden. Dieser nutzte die Gelegenheit, sogleich darauf hinzuweisen: „Ab 12 Uhr ist die Netzgemeinde gefragt, dann startet die Votingphase für den Publikumspreis.“

Kategorie INFORMATION

Los geht es dann mit der Vorstellung der Kategorie INFORMATION. Neben „Anorexie – Heute sind doch alle magersüchtig“ und „Apropos Kosovo“ konnte hier Zeit Online mit „Wer darf leben?“ beeindrucken. „Die Webreportage setzt sich mit der Pränataldiagnostik auseinander und ist parallel in leichter Sprache erschienen – immer noch eine Seltenheit, während alles von Inklusion spricht,“ beklagt Macher Sven Stockrahm. Überhaupt ist leichte Sprache alles andere als leicht: Leichte Sprache klinge schnell debil, in „Wer darf leben?“ konnte das verhindert werden, freut sich Stockrahm.

Lorenz Maroldt vom Tagesspiegel.de berichtet über seinen Newsletter "Checkpoint", daneben Christina Schmidt von "Apropos Kosovo". Fotot: Grimme-Institut / Jens Becker

Lorenz Maroldt vom Tagesspiegel.de berichtet über seinen Newsletter „Checkpoint“, links daneben Christina Schmidt von „Apropos Kosovo“.
Fotot: Grimme-Institut / Jens Becker

Die Wiederbelebung eines alten Formats ist der persönliche Newsletter „Checkpoint“ von Tagesspiegel-Chefredakteur Lorenz Maroldt. Jeden Morgen liefert er aktuelle Informationen aus und über Berlin sowie teils bissige Kommentare. Eine Menge Arbeit bedeutet das für ihn, Arbeit, die sich nicht outsourcen lässt: „Soll halt persönlich sein“, so Maroldt. Und persönlich gehe eben nur persönlich. Dabei freut ihn besonders: „Der Checkpoint ist zur Pflichtlektüre auch in der politischen Landschaft geworden!“ So kurz und knapp, macht er da nicht die Zeitung überflüssig? „Gar nicht“ entgegnet Maroldt, „eher macht die kurze Form Lust auf die lange.“ Ergebnis: Die Neugier auf die Zeitung steige.

Zu Maroldts Lektüre, gehört regelmäßig die Online-Zeitung „neukoellner.net“, die ein ehrenamtliches Team produziert – eine weitere Nominierung. „Neukoellner.net“ lässt den Lokaljournalismus aufleben und erzählt ihn im Internet neu  mehr oder weniger anzeigenfrei. „Wir wollten die Seiten nicht so vollklatschen“, erklärt die Chefredakteurin Regina Lechner, zugleich spendeten aber auch die Leser. „Viele Inhalte sind ein Nebenprodukt aus Sachen, mit denen wir Geld verdienen“, so Lechner. „Lohnt das?“ will Moderatorin Baetz wissen. Erst sei das unklar gewesen, aber langsam zog ihr Angebot Kreise, bis sie schließlich auch von Leuten gelesen wurden, die sie nicht kannten. „Die Geschichten sind auch überregional interessant“, so die Neuköllnerin und weiter: „Über Neukölln existieren einfach zu viele Klischees – die Rütli-Schule zum Beispiel. Anfangs wollten wir einfach die andere Seite zeigen, jetzt sind wir aber deutlich politischer unterwegs und berichten sogar über Sitzungen im Rathaus!“

Sandra Müller (l.) und Katharina Thoms von "Jeder Sechste ein Flüchtling" des SWR; Foto: Grimme-Institut/Jens Becker

Sandra Müller (l.) und Katharina Thoms von „Jeder Sechste ein Flüchtling“ des SWR; Foto: Grimme-Institut/Jens Becker

Weitere Angebote in der Kategorie INFORMATION sind „Jeder Sechste ein Flüchtling“, „MH17 – Die Suche nach der Wahrheit“ und das Wissenschaftsmagazin „Substanz“, das so ganz anders daher kommt – mit einer anspruchsvollen Optik und eher locker im Stil, was ungewöhnlich im Wissenschaftsjournalismus ist. „Man muss sich das einfach trauen“, so Georg Dahm, einer der Gründer und Chefredakteur. Tun sie und suchen jetzt nach einen weiteren Finanzierung. Entwicklung und Produktion wurde per Crowdfunding finanziert, jetzt müsse ein alternatives Modell her.

Kategorie WISSEN und BILDUNG

Jetzt ist die Kategorie WISSEN und BILDUNG dran, vorgestellt von Friedrich Hagedorn. Neben „Auferstanden als Ruine“, „Refugees – 4 Monate, 4 Camps“ und „Trauern verboten“ zählt hier zu den Nominierten die Webreportage „Mein Vater, ein Werwolf“. Spiegel-Reporter Cordt Schnibben arbeitet hierin die Nazi-Vergangenheit seines Vaters und die Verleugnungsstrategien der Elterngeneration auf, wobei er nicht nur die persönliche Perspektive im Blick hat: „Alles fing damit an, dass ich mich aus dem Printbereich etwas verabschiedet hatte,“ um sich stärker den Herausforderungen durch die Digitalisierung zu widmen. Schließlich stellte er über Social Media die Frage: „Wer hat eigentlich Erfahrungen mit Nazi-Eltern?“ So lernte er die Community der Nazi-Kinder kennen – die Grundlage für seine Webreportage -, die er mit einer umfangreiche Aktenrecherche ergänzte, ständig von einem Kameramann begleitet.

Cordt Schnibben berichtet über "Mein Vater, ein Werwolf"; Foto: Grimme-Institut / Jens Becker

Cordt Schnibben berichtet über „Mein Vater, ein Werwolf“; Foto: Grimme-Institut / Jens Becker

Er bekomme – sieht man mal von den Querulanten und Trollen ab – über das Netz sehr qualifizierte Rückmeldungen. Dabei betrachte er sich selbst keineswegs als Vordenker für einen netzaffinen Journalismus sondern als Nachzügler in Sachen Netz: „Eigentlich bin ich zu spät dran! Das erklärt auch meinen Druck und meine missionarische Haltung“, so Schnibben, „Wir sind gerade erst dabei, die Chancen eines Printtitels mit den Möglichkeiten der Digitalisierung zu verknüpfen!“ Und dann kommt es zu einer regelrechten Enthüllung und Schnibben wirkt dabei fast ein bisschen ärgerlich, denn offensichtlich teilen nicht alle seine Mission: „Stellen Sie sich mal vor: Siebzig Prozent der Spiegel-Print-Redakteure haben weder Twitter- noch Facebook-Account!“ Irritation im Saal. Und diese Haltung dahinter finde er zum K… „Wir können doch nicht vor dem Netz in die Knie gehen!“ bricht es aus ihm heraus.

Auch in der Kategorie Wissen und Bildung nominiert ist die YouTube-Reihe „Shore, Stein, Papier“. Jeden Mittwoch gibt es zwei bis drei neue Folgen, in der Ex-Junkie „Sick“ mit Kaffee und Kippe am Küchentisch Episoden aus seinem Leben als Süchtiger erzählt. „Die Idee stammt ursprünglich von Ramon Diehl. Den Protagonisten haben wir über unseren weiteren Bekanntenkreis kennen gelernt“, so Macher Paul Lücke. Dabei sind sie vom Erfolg überrascht worden, denn die Machart wirke doch recht simpel – was nicht bedeutet, dass hier einfach nur ein guter Erzähler abgefilmt wird. Viel Recherche gehöre dazu, klärt Lücke auf. Bemerkenswert findet er die unerwartet „produktive Kommentarkultur“, die problematische Kommentierende zurechtweist  und Interventionen weitgehend überflüssig macht. Und überhaupt war erstaunlich bis irritierend für ihn, dass die Netzgemeinde „wirklich zuhöre. Manche nutzen unser Angebot sogar wie ein Hörbuch – abends zum Einschlafen!“ Auch irgendwie dokumentarisch ist die interaktive Doku-Webserie „netwars / out of CTRL„, die in fünf Episoden vom drohenden Cyberkrieg erzählt – und von den Attacken, die bereits passieren. Sie ist Teil eines umfassenden Crossmedia-Projekts, zu dem auch eine interaktive Graphic-Novel-App gehört. „Die Sache ist einfach immer größer geworden“, erklärte Michael Grotenhoff, einer der netwars-Macher. „Wir wollten uns halt als Firma auch anders aufstellen und versuchen, multimedialer zu erzählen“, so Grotenhoff weiter. Und die Zusammenarbeit mit dem Verlag Bastei Lübbe? „Na ja, man geht heutzutage nicht mehr einfach nur noch zu einem Sender!“

Udo Stiehl und Sebastian Pertsch von der Floskelwolke (v.l.); Foto: Grimme-Institut/Jens Becker

Udo Stiehl und Sebastian Pertsch von der Floskelwolke (v.l.); Foto: Grimme-Institut/Jens Becker

Doch es gibt nach wie vor auch völlig andere Formate. Die „Floskelwolke“ ist dafür beispielhaft. Täglich werden hier hunderte Webseiten nach Floskeln und Phrasen durchsucht und zu einem Ranking zusammengestellt. Kuriose Enthüllung: Sebastian Pertsch und Udo Stiehl, die es als Journalisten betreiben, kannten sich gar nicht, haben die „Floskelwolke“ qua Netzkommunikation aus der Taufe gehoben und trafen erstmals für ein „gemeinsames“ Interview beim Deutschlandradio aufeinander, nachdem sie bereits mehrere Wochen zusammengearbeitet hatten – der eine im Berliner Funkhaus, der andere im Kölner. „Aber der Grimme Online Award ist nicht die erste Gelegenheit für ein Treffen?“ will Moderatorin Baetz wissen. „Nein, nein“, beruhigt Stiehl und ein Lachen geht durch den Raum. „Und an wen richtet sich die Floskelwolke?“ will Baetz weiter wissen. „Bei der Zielgruppe dachten wir zuerst an Journalisten, aber das Interesse geht deutlich über den Berufsstand hinaus“, so Stiehl.

Gegliedert werden die Floskeln in drei Kategorien und immer wieder ergänzt. Ganz neu: „Bootsmigrant und Flüchtlingssaison.“ Ging gerade noch ein Lachen durch den Raum, ist es jetzt plötzlich ganz still: betretenes Schweigen.

Kategorie KULTUR und UNTERHALTUNG

Dann folgten die Nominierten der Kategorie KULTUR und UNTERHALTUNG, vorgestellt von Vera Lisakowski – immer eine Herzensangelegenheit für sie. Darunter fällt die „MausApp“, die einzige App unter den nominierten Angeboten, das Webvideo-Angebot „Hyperbole TV“, Teil eines Forschungsprojekts an der Leuphana Universität Lüneburg und das Digitorial „Monet und die Geburt des Impressionismus“. Digitorial sei natürlich ein Kunstwort, verknüpfe Digitalität und Editorial, so Chantal Eschenfelder vom Frankfurter Städel-Museum im Gespräch. Und so will es mehr als eine Online-Einführung für eine Ausstellung sein, will Inhalte bieten und keineswegs als bloße Ausstellungswerbung verstanden werden, betont Eschenfelder. Das kommt so gut an, dass nun zu jeder größeren Ausstellung vergleichbare Digitorials entstehen sollen, verrät sie erfreut.

Bastian Asdonk von "Hyperbole TV" und Chantal Eschenfelder vom Städel Museum; Foto: Grimme-Institut/Jens Becker

Bastian Asdonk von „Hyperbole TV“ und Chantal Eschenfelder vom Städel Museum; Foto: Grimme-Institut/Jens Becker

Weitere Nominierte der Kategorie KULTUR und UNTERHALTUNG sind  „M29 – Berlins Buslinie der großen Unterschiede“„Mamour, mon amour“, ein Angebot aus der Schweiz, die ARTE Produktion „Polar Sea 360°“ sowie „Onkel Willi“. Diese multimediale Dokumentation  erzählt Geschichten aus dem Leben eines Münsteraner Originals. Für die Multimedia-Umsetzung musste der erfahrene TV-Mann Christian Dassel umlernen: „Ich hatte einfach die Fernseh-Doku in das Content Management System für die Webreportage eingestellt, aber das funktioniert nicht für das Netz,“ kommentierte Dassel, „aus der ersten Abnahme bin ich dann wie ein geschlagener Hund rausgekommen.“

Die Nominierung zeigt: Ist dann ja doch noch was daraus geworden.

Kategorie SPEZIAL

Und in Sachen SPEZIAL? Nominiert sind hier „Alexander Gerst“ und seine Social Media-Aktivitäten, das Informationsfreiheitsportal „FragDenStaat.de“ sowie das gemeinnützige Recherchebüro „Correctiv“, welches unter anderem auch an „FragDenStaat.de“ beteiligt ist sowie an der eingangs erwähnten Vor-Ort-Recherche „MH17 – Die Suche nach der Wahrheit“. Pointierter: Eigentlich sind sie gleich dreimal unter den Nominierten. Im Prinzip ist ihr Anliegen dem Cordt Schnibbens vergleichbar: „Uns geht es darum, Journalismus neu zu erfinden“, erklärt Correctiv-Geschäftsführer Christian Humborg, daher werde mit Formaten experimentiert, schließlich „können wir doch nicht alles den US-amerikanischen Anbietern überlassen.“ Ihre Recherchen stehen kostenfrei auch anderen Medien zur Weiterverarbeitung zur Verfügung, wovon auch der Lokaljournalimus etwas habe. „Bei einer Recherche zu Krankenhauskeimen, hat das auch schon ganz gut funktioniert“, berichtet Humborg, zahlreiche Lokalblätter hätten sie für sich zu nutzen gewusst. Zur Finanzierung können sie auf Stiftungsgelder zurückgreifen sowie auf Mitgliedsbeiträge – eine Finanzierungsalternative für den Journalismus?

Schließlich ergreift die Universität zu Köln wieder das Wort – in Person ihrer Studierenden. Im Rahmen eines mehrtägigen Blockseminars hatten sie sich anhand ausgewählter Einreichungen mit dem Grimme Online Award und seinen Kriterien auseinandergesetzt, um die Praxis der Qualitätsbewertung kennen zu lernen. Um die Ergebnisse zu präsentieren hätte die Zeit am Ende der Bekanntgabe der Nominierungen nicht gereicht, also treten die Studierenden an, „die schlechteste Präsentation überhaupt“ zu halten. Mit Comic Sans und Störungsgeräuschen erfüllen sie womöglich das selbst gesteckte Ziel – und enthüllen #grimmeleaks. Die zugehörige Webseite, die die vermeintlichen Preisträger nach dem Zufallsprinzip anzeigt, bringt einen Meedia-Autor so durcheinander, dass er schreibt: „Verwirrung am Tag der Normierung“. (Weitere Pressestimmen zu den Nominierungen finden sich hier)

Publikumsvoting

Möglicher Gewinn beim Voting: Cat Helix Tablets

Möglicher Gewinn beim Voting: Cat Helix Tablets

Und wie geht es weiter? Aus den insgesamt 25 Nominierungen zum Grimme Online Award, wird die Jury nun bis zu acht Preisträger ermitteln. Auch das Publikum kann über einen Preis entscheiden: Bis einschließlich 11. Juni kann jeder Internetnutzer auf der Website von TV Spielfilm für den Publikumspreis abstimmen und an der Verlosung zweier 8 Zoll Tablet-Computer Cat Helix teilnehmen. Viel Erfolg!

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