42553 Neviges: langweilig – aber wundervoll
Einen anderen Blick auf das Geschehen vor Ort – als Ergänzung und Gegenpol zum Lokaljournalismus der Zeitungen. Das bietet Norbert Molitor mit „42553 Neviges“. Neviges ist ein Stadtteil von Velbert und liegt zwischen Wuppertal und Essen. Dort ist nicht besonders viel los. Es gibt Abwanderung und geschlossene Geschäfte, aber auch Kultur- und soziale Projekte. Norbert Molitor lebt gern dort und möchte, wie er selbst sagt, „nur etwas Spaß haben und die Obrigkeit anstoßen.“ Mit seinem humorvollen Ton und seinen ästhetischen Dokumentarfotos ist diese Mission geglückt. Ein Besuch seines Blogs lohnt sich nicht nur für Nevigeser.
Sind Sie von der Nominierung überrascht worden oder haben Sie ihr Angebot selbst vorgeschlagen?
Das Erste, was ich gedacht habe, als ich aufs Display schaute: Da stimmt was nicht. Die Vorwahl war mir nicht geläufig. Könnte Marl sein. Ich dachte, jemand macht einen kleinen Scherz mit mir. Nachdem ich die Nachricht gehört hatte, war ich erst mal so erstaunt und glücklich, dass ich immer noch gar nicht weiß, was ich damit anfange. Abends habe ich dann recherchiert, was passieren würde, wenn ich gewinnen sollte. Womit ich nicht rechne. Und ich habe mir Sorgen gemacht, was jetzt mit meinem kleinen Blögchen passiert, wenn das bekannt werden würde. Mich hat das schon sehr beschäftigt, und ich habe schlecht geschlafen, weil ich wirklich aufgeregt war. Ich wollte meine Person da eigentlich immer raushalten und nur ein wenig bewegen in Neviges.
Wie ist Ihr Angebot entstanden?
Ich habe mir eine gute Kamera gekauft und überlegt, was ich damit mache. Wenn ich Bilder mache, will ich sie auch in irgendeiner Form veröffentlichen. So habe ich mir Neviges ausgesucht. Neviges ist ein sehr kleiner Ort, ein Stadtteil von Velbert. Von den 80 Tausend Einwohnern Velberts gehören 19 Tausend zu Neviges. Über Neviges gibt es im Netz eigentlich kaum etwas zu finden und ich dachte, „dann mach ich das mal“. Es gibt zwei Lokalzeitungen. Die drucken aber eigentlich nur das ab, was die Pressestelle der Stadt Velbert veröffentlicht. Fotos alleine fand ich zu wenig. So kamen noch die Bildunterschriften dazu. Das Blog habe ich nur als Vergnügen angesehen. Allerdings habe ich auch immer schon bestimmte Dinge im Kopf gehabt, die ich ansprechen möchte. Wenn hier Bäume abgesägt werden, schreibt die Presse, dass sie krank waren. Ich schreibe, die waren gesund und mussten nur weichen, weil sie ein paar Blätter fallen lassen, die jemand wegkehren muss. Ich bin somit auch Gegenpol zu der örtlichen Presse, die andere Interessen hat. Ich mache keine PR für Neviges, das will ich auch nicht. Die Presse liest mein Blog, manchmal werden Themen auch aufgenommen. Oft bin ich angekreidet worden, das ich Neviges nicht so positiv darstelle, aber ich stelle es einfach so dar wie es ist. Langweilig aber wunderbar. Ich habe das Blog jahrelang anonym betrieben und keiner wusste, wer ich bin. Inzwischen wissen es einige und nun wohl bald alle. Aber damit muss ich leben.
Wie sieht Ihre tägliche Arbeit aus und wer ist daran beteiligt?
Ich habe die Kamera immer dabei und mache, oft einfach aus der Hüfte heraus, meist morgens 5-6 Fotos. Die Bildunterschrift ist in 5-10 Minuten fertig und ich beachte da keine besonderen Vorgaben. Ich stell es einfach rein, mach es wieder zu und dann ist gut. Ich möchte auch nicht, dass es in Arbeit ausartet. Alles das, was mir gefällt und nicht gefällt, fotografiere und kommentiere ich. Und das ist eigentlich alles. In Neviges ist wenig los, es besitzt aber einen weltbekannten Dom, der von den Einwohnern jedoch nicht wirklich genutzt wird. Außerdem haben wir noch ein ehemaliges barockes Wasserschloss, dass seit 12 Jahren renoviert wird. Früher waren dort Ausstellungen, jetzt ist es eine Dauerbaustelle. Über diese Sachen berichte ich auch. Wenn es sich anbietet, auch über soziale Projekte, wie die Nevigeser Tafel oder Kunst. Aber auch über Einzelhandel-Leerstand. Damit bin ich schon oft angeeckt. Aber das Blog zeigt auch, wie schön der Ort ist, und das ist meine Intention. Es ist schön, wenn man hier lebt. Man braucht wenig Geld – man kann keines ausgeben. Wuppertal und Essen sind aber in gut 15-20 Minuten mit der S-Bahn vor der Haustür zu erreichen. Viele nutzen Neviges nur als Schlafstadt und viele sagen, hier raus zu wollen. Ich allerdings fühle mich hier wohl. Ich habe Fans aus Deutschland und dem Ausland, die früher mal hier gelebt haben und das Blog verfolgen. Vor Kurzem hatte ich Besuch von einem Bekannten aus Spanien. Der konnte mir die Stadt zeigen, ohne vorher da gewesen zu sein. Das sind doch schöne Geschichten. Ich möchte niemanden verletzten oder der „Besserwisser“ im Dorf sein, sondern eigentlich nur etwas Spaß haben und Spaß machen – und die Obrigkeit und andere anstoßen. Ich frage alle, die ich fotografiere, vorher, ob sie in das Blog wollen. Kinder fotografiere ich grundsätzlich nicht oder mache sie unkenntlich. Gestern habe ich einen 82-jährigen Mann mit seiner Genehmigung fotografiert. Es gibt Leute, die sehr aufgeschlossen sind, wenn ich zum Beispiel über den Markt gehe. Das sind meist die mit ausländischen Wurzeln. Mir liegt am Herzen, dass sie mehr Gehör im Ort haben und nicht nur die sieben Gastronomen im Dorf sind. Die Gastronomie ist in ausländischer Hand, das wird auch nicht so gern gesehen. Ich könnte mir auch vorstellen, Ortsbeschreibungen von Wohnungen zu machen, um zu zeigen wie die Leute hier leben, oder Händler vorzustellen. Eben alles, was im Rahmen dieser kurzen Bildunterschriften möglich ist.
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Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Im Januar und Februar habe ich eine schlechte Zeit mit meinem Blog erlebt. Nachdem man wusste, wer ich bin, wurde ich angegriffen. Abmahnungen, weshalb es jetzt auch ein Impressum gibt, Strafanzeigen bei der Polizei wegen Rufschädigung, obwohl ich nichts gemacht hatte. Ich wünsche mir eigentlich nur, wenn ich ehrlich bin, dass dieses Blog akzeptiert wird, hier in Neviges. Ich bin auf einem guten Wege. Es gibt Leute, die wissen, wer ich bin und finden das Angebot toll. Es gibt aber auch gegenteilige Ansichten. Ich denke, mit der Nominierung könnte sich einiges ändern. Mit dem Grimme-Institut im Rücken fühle ich mich etwas mutiger, vielleicht auch Themen anzusprechen, die ich noch nicht angesprochen habe. Ich möchte Neviges nicht runterziehen, ich halte da immer in der Waage. Es gibt ein Café mit Dichterlesungen und demnächst ist ein Schachturnier. Ich möchte, dass die Leute stolzer werden auf die Stadt und noch mehr mit der Politik in Kontakt stehen. Ich würde mir wünschen, dass die Leute morgens aufstehen, und so wie ich den „Spiegel“, die „taz“ oder „FAZ“ lesen, und dann schauen, was eigentlich so der Nevigeser schreibt.
Mit ‚42553 Neviges‘ sorgen Sie dafür, dass sich Mundwinkel heben. Das sieht nicht nur besser aus, sondern belebt auch den trägen Geist.
Vielleicht kommt es ja einfach auf die Wahrnehmung an?
Mit einer lachenden Perspektive sieht die Welt schon etwas heller aus. In diesem Sinne spiegeln die Fotos im blog einen feinen Geist und der Eindruck verstärkt sich beim Lesen der subtilen Kommentare. Sie dokumentieren ein kleine Stadt, gewürzt mit gutem Geschmack. So zeigt sich das Besondere in der Perspektive: eine helle und sehr wache Wahrnehmung auf die Welt. Sie schärfen unseren Blick für die kleinen Dinge, die das Leben erst interessant machen. Mit ihren Augen und ihrer Stimme können wir teilhaben an einer dynamischen Kraft, die es schafft, aus einfachen Details ganz besondere Statement zu generieren. Sie nehmen uns mit in eine wunderbare Dimension des Erlebens.