Warum ein Hashtag? Warum #aufschrei?
Der Hashtag #aufschrei ist die wohl am meisten beachtete Nominierung zum Grimme Online Award 2013 – sie hat viel positive Resonanz bekommen, aber auch negative. Ganz wie der Hashtag selbst. In der publizistischen Bedeutung des Hashtags für die öffentliche Auseinandersetzung mit einem Thema von allgemeingesellschaftlicher Relevanz liegt auch die Begründung für die Nominierung. Deshalb berichten wir hier über einen Vortrag von einer der Initiatorinnen, der die Geschichte von #aufschrei erzählt:
„Auf meiner Seite des Internets sah die Nacht vom 24. auf den 25. Januar 2013 ganz normal aus, ich wollte nur noch mal kurz ins Internet schauen, bevor ich schlafen gehe“, berichtet Anne Wizorek (@marthadear) bei einer Session (Video) am letzten Tag der diesjährigen re:publica.
Was sie sah, war ein Tweet von Nicole von Horst (@vonhorst), die sie zu dem Zeitpunkt noch nicht mal persönlich kannte.
Der Arzt, der meinen Po tätschelte, nachdem ich wegen eines Selbstmordversuchs im Krankenhaus lag.
— fröken von Horst (@vonhorst) 24. Januar 2013
Dieser Tweet war, wie schon einige zuvor, entstanden aufgrund eines Textes von Meike Hank im Weblog kleinerdrei.org, in der sie Situationen des Alltagssexismus beschreibt. Dieser Blogpost erhielt direkt sehr viel positive Resonanz, vor allem von Frauen, die diese Situationen auch kannten, aber auch Kommentare von Personen, die fragten, was Hank wohl falsch gemacht haben könnte oder ob sie nicht übertreiben würde. Nicole von Horst kritisierte vor allem, dass Kommentatoren die Situationen verharmlosten, schrieb einige Tweets zu dem Thema und suchte zusammen mit Jasna Strick (@Faserpiratin) nach einem Hashtag. „Ich hatte sofort den Impuls, meine eigenen Geschichten zu erzählen“, berichtet Anne Wizorek über diesen Moment. Sie kannte die englischen Tweets unter #ShoutingBack, die sich auf Übergriffe auf der Straße beziehen, und suchte nach einem vergleichbaren Wort auf Deutsch: „#aufschrei war geboren. Mir gefiel die Idee des Lautseins gegenüber dem sonstigen Schweigen.“
@vonhorst wir sollten diese erfahrungen unter einem hashtag sammeln. ich schlage #aufschrei vor. — anne wizorek (@marthadear) 24. Januar 2013
Es gab nie einen Aufruf zum Mitmachen, und doch beteiligten sich immer mehr Frauen unter diesem Hashtag. „Obwohl es schon nach Mitternacht war, ging der Aufschrei in die Welt hinaus“, berichtet Anne Wizorek weiter, „es war ein sehr seltsames Gefühl, intime Dinge ins Netz zu schreiben, aber zugleich extrem befreiend.“ Viele Frauen müssen genauso empfunden haben, denn sie twitterten nicht nur ihre Erlebnisse mit Sexismus im Alltag, sondern auch über den Halt, den sie erstmals über die Tweets erfahren haben:
Dank der #Aufschrei Tweets fühle ich mich nicht mehr allein. — Mahriah (@Mahriah) 25. Januar 2013
Auch viele Männer reagierten betroffen, twitterten, dass sie erstmals in dieser Wucht von solchen Erlebnissen gehört haben. Allerdings habe es auch gegenteilige Reaktionen, Angriffe, meist von Männern. (Wer dieses unbedingt suchen möchte, wird sie bei Twitter finden – und nicht nur dort, sondern z.B. auch im Heise-Forum.) An einen dauerhaften Erfolg des #aufschrei-Hashtags glaubte Anne Wizorek zunächst nicht. Umso überwältigender war der nächste Tag für sie: „Am nächsten Morgen redete meine eigene Timeline komplett über #aufschrei. Aber nicht nur die eigene Timeline. Das hatte sich verbreitet, sämtliche Filter-Bubbles waren geplatzt, wir hatten bereits Interviewanfragen bekommen und irgendwann war es sogar Trending Topic bei Twitter.“
Warum ausgerechnet bei Twitter?
20.000 Tweets an einem Vormittag zeigen, dass es offenbar einen breiten Redebedarf über Sexismus im Alltag gibt. Doch warum sind Twitter und ein Hashtag notwendig, um sich zu öffnen, um das Thema öffentlich zu machen? Hierzu beschreibt Anne Wizorek Sexismus in Form einer Gleichung: Sexismus = Vorurteil + Macht. Neben Scham würden die Betroffene Schuldgefühle mit sich rumtragen, dies würde sie stumm machen. Insbesondere, wenn Verteidigungen wie „war doch nur ein Witz“ oder „war doch nur nett gemeint“ auf eine positive Grundhaltung stießen oder die Frage „Was hast du denn gemacht, dass das überhaupt passiert ist?“ weithin akzeptiert würde. Insofern habe #aufschrei zwei wesentliche Erkenntnisse für die Betroffenen gebracht: „Du bist nicht Schuld“ und „Du bist nicht allein“. Aber der Informationsaustausch ging weit über die Betroffenen hinaus: „Consciousness raising“ hieße dies, erklärt Anne Wizorek, wenn individuelle Probleme einer breiten Öffentlichkeit bewusst gemacht würden. „Daten und Statistiken bleiben einfach nicht so gut hängen. Wenn 58,2% aller Frauen angeben, sexuell belästigt worden zu sein, bleibt das nicht so gut hängen, wie persönliche Geschichten.“ Diese persönlichen Geschichten – und das große Problem, das dahinter steckt – verbreiteten sich aber nicht nur über Twitter, sondern wurden aufgenommen: In Blogs – von Männern und Frauen – aber auch in Mainstream-Medien. Die allerdings, so Anne Wizorek, hätten die Berichterstattung zum großen Teil nicht so gut hinbekommen. Sehr viele Beiträge hätten sich stark auf den Geschlechterkampf bezogen – und George Clooney habe immer dafür herhalten müssen, dass sexuelle Belästigung OK wäre, wenn sie nur von ihm käme. „Ist sie nicht!“, erklärt Anne Wizorek entschieden. International fand die laut Wizorek bessere Berichterstattung über #aufschrei statt – und auch der Hashtag verbreitete sich im Ausland: #outcry, #assez oder #gridala zeigten, dass Frauen in anderen Ländern dieselben Probleme hätten, weil sie in männlich dominierten Gesellschaften lebten. Besonders gefreut hat Anne Wizorek auch, dass der Hashtag mit #queeraufschrei erweitert wurde, um auf Mehrfachdiskriminierung hinzuweisen.
Trolle diffamieren sich selbst
Die Reaktionen waren aber mitnichten nur positiv. Die Hass-Tweets und –Mails, die Anne Wizorek in ihrer Präsentation als Beispiele zeigt, lassen den Saal betreten verstummen. Diese Reaktionen seien Symptom desselben Systems, das auch Aufschrei notwendig gemacht habe, erklärt Wizorek, und verweist auf einen Tweet, der selbstbewusst mit den Reaktionen umgeht:
#aufschrei ist ein Mem, das nicht getrollt werden kann, weil jeder Troll nur weitere Beweise für die Notwendigkeit des Mems liefert.
— Antje Schrupp (@antjeschrupp) 25. Januar 2013
Trotzdem, so Anne Wizorek, hätte der Hashtag als „Bullshit-Detektor“ dienen können: „man kann wieder herrlich die Timeline aufräumen – muss aber auch erkennen, dass Solidarität nicht immer gegeben ist.“ Wenn man Glück habe, wären dem Gegenüber die Augen geöffnet worden. Besonders gefreut habe Anne Wizorek, dass auch Männer dankbar dafür waren, dass die Debatte angestoßen wurde. Aber auch bei Frauen waren die Reaktionen nicht einhellig: So sei der Blogbeitrag „Das Schreien der Lämmer“ von einer Frau geschrieben und folge dem Tenor „habt euch nicht so“. „Eine schwierige Situation, weil sie von sich selbst auf andere geschlossen hat“, erklärt Wizorek. Als Positivbeispiel nennt sie einen Beitrag der „Kaltmamsell“, die Erfahrungen von Alltagssexismus nicht gemacht habe, aber in ihrem Beitrag konstatiere, dass es dann bei #aufschrei eben nicht um sie ginge.
Wie geht es jetzt weiter?
„Reden, reden immer weiter reden“, wäre die Konsequenz aus #aufschrei, appelliert Anne Wizorek. Den Worten müssten aber auch Taten folgen. #aufschrei habe es bereits von der Online- in die Offline-Welt geschafft, Lehrerinnen und Lehrer hätten es im Unterricht thematisiert, der Hashtag fände sich inzwischen auch auf handgeschriebenen oder gedruckten Zetteln und sei so sogar ein Offline-Label geworden. Und als Label sieht auch Anne Wizorek #aufschrei, der in der Zwischenzeit viele Titel bekommen habe, so „Meme“, „Bewegung“ oder „Kampagne“. Dieses Label trage sich in eigene Netzwerke und ins Offline-Leben weiter – dies sei doch schon mehr als vorher passiert sei. „Ich würde mich freuen, wenn die Politik aktiver werden würde, wenn es mehr institutionalisierte Vereine geben würde. Aber ich kann das nicht alles übernehmen. Für mich muss es nicht zu einer Bewegung werden, es reicht, wenn es als Label benutzt wird, um Dinge anzusprechen, die so vorher nicht angesprochen wurden.“
Und warum die Nominierung?
„Zum ersten Mal nominieren wir in der Kategorie Spezial mit #aufschrei einen Hashtag, weil sich eine Bürgerbewegung dieses bereits etablierte Werkzeug und den Kanal Twitter zu eigen gemacht hat. Wir erlebten dadurch eine wirkungsvolle Demonstration im digitalen Raum, die es schaffte, einen enormen medienübergreifenden, immer noch andauernden Widerhall zu erzeugen“, begründet die Nominierungskommission ihre Entscheidung. Dies zeigt schon, dass es nur insofern um die Inhalte geht, als dass es sich um die Kommunikation eines gesellschaftlich relevanten Thema handelt – die Nominierungskommission hat nicht alle einzelnen Tweets geprüft, ihr ist und war klar, dass unter dem Hashtag #aufschrei jeder twittern kann und schreiben kann, was er möchte. Das gehört zur offenen Kommunikation im Internet: Jeder kann sich beteiligen, im Positiven wie im Negativen. Obwohl sich auch gegenteilige Meinungen, Beschimpfungen, Verweise oder Tweets finden, die mit dem Thema nichts zu tun haben, hat der Hashtag eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst, die so über das Thema Alltagssexismus vorher nicht stattgefunden hat. Und #aufschrei hat erstmals für Deutschland gezeigt, welche Macht das Medium Twitter entwickeln kann. Diese gesellschaftliche Dimension war der Grund dafür, den Hashtag #aufschrei zu nominieren und nicht etwa die – von den gleichen Initiatorinnen stammenden – Angebote „twitter.com/aufschreien“ und „alltagssexismus.de„, die von der Nominierungskommission ebenso geprüft wurden.
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[…] entbrannt. So könnte der von Anne Wizorek vorgeschlagene Hashtag am kommenden Freitag mit dem Grimme Online Award gewürdigt werden. Höchste Zeit also, dass Kultureinrichtungen den Hashtag entdecken. Ulrike […]
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