Blattmachen online: Newssites im Nachrichtenstrom

Der Leiter von „Sueddeutsche.de“, Stefan Plöchinger, beim Grimme Online Award 2012.

Wie funktioniert „Blattmachen“ bei Nachrichtensites, wenn es anders als bei der Zeitung keinen produktionstechnischen Redaktionsschluss gibt? Eine Studie der Hochschule Darmstadt zeigt, dass Online-Redaktionen Strategien haben, um im schnellen Nachrichtenstrom ihr eigenes Profil zu bilden. Eine Abwägung, die die Redaktionen immer treffen müssen: Wie gewichten sie im Tagesverlauf die aktuellen Themen – und wie platzieren sie eigenproduzierte Beiträge?

Ein Gastbeitrag von Peter Schumacher, Professor für Journalistik an der Hochschule Darmstadt.

„Ein einzigartiger und im Journalismus ziemlich neuer Job“, so beschreibt Stefan Plöchinger, Chefredakteur von Süddeutsche.de die Aufgabe des Online-Blattmachers. Die Bezeichnungen des Jobs variieren: Mal heißt er Chef vom Dienst, mal Redakteur vom Dienst, aber auch die Bezeichnungen Homepage-Chef oder Newsdesk-Chef sind in großen Onlineredaktionen zu finden.

Die Job-Beschreibung fasst Plöchinger so zusammen: „Prioritäten in der Themenflut zu setzen, das Wichtige zu filtern und klug einzuordnen, offen zu bleiben für Überraschungen, Artikel gut zu mischen und anzutexten, kreativ und trotzdem eine verlässliche Größe zu sein, kurz: die Seite und ihre Geschichten richtig zu verkaufen, 24 /7 .“

Wie auch immer der Online-Blattmacher heißt, Plöchinger lenkt den Blick auf eine zentrale redaktionelle Aufgabe für onlinejournalistische Angebote: Wie entscheiden Redaktionen darüber, welche Themen sie wann und wie in das Schaufenster ihrer Website, auf die Homepage, stellen? Weil dies für die meisten Nutzer trotz alternativer Zugriffsmöglichkeiten über RSS-Feeds, mobile Dienste oder Social Networks immer noch ein wichtiger Zugang ist, entscheidet sich hier, ob es gelingt, die Leser im Tagesverlauf zum Weiterlesen und zur Rückkehr zu bewegen. Online-Blattmacher prägen so auch das Profil eines Webangebots und sorgen damit für Unterscheidbarkeit.

Ein Orientierungsmaßstab für das Blattmachen ist die Verteilung der Zugriffe auf der Homepage über den Tag oder über die Woche. Während die Nutzung von Nachrichtenwebsites im Tagesverlauf vor ein paar Jahren eindeutig mit den Bürozeiten der Leser zusammenhing, hat die zunehmende Onlinenutzung außerhalb der Arbeitszeiten im Privaten die Nutzungsverteilung verändert. Früher lagen die Spitzen zwischen etwa acht und neun Uhr morgens, bei einem Hoch um die Mittagszeit sowie bei einem weiteren kleinen Peak am späten Nachmittag. Heute flachen die Ausschläge in der Nutzungskurve aufgrund der kontinuierlicheren Nutzung auch von zu Hause aus oder von unterwegs ab. Trotzdem: Gerade morgens ist die Nachfrage nach Nachrichten groß. Das läuft jedoch den Produktionszyklen von Tageszeitungen zuwider.

Welche Produktionsrhythmen gibt es im Online-Journalismus? Wie entscheiden die „Blattmacher” im Tagesverlauf? In einer exemplarischen Verlaufsstudie, die sechs aktuelle Newssites untersuchte, zeigten sich Hinweise auf bestimmte Muster. Untersucht wurden an einem Stichtag die Homepages von zeit.de, taz.de, faz.net, hr-online, fnp.de und boerse.ard.de. Klar zu erkennen: Alle Redaktionen starten früh mit neuen Aufmacherbeiträgen, um die Nachfrage der Nutzer zu befriedigen. Zeit.de und faz.net hatten bereits um acht Uhr die obersten fünf Topthemen aktualisiert. Ebenfalls auffällig: Die Onlineredaktionen von zeit.de, taz.de und faz.net brachten am untersuchten Tag jeweils 30 oder mehr verschiedene Beiträge auf ihren fünf Top-Plätzen – also deutlich mehr, als eine Zeitung auf der Titelseite präsentieren kann.

In Interviews mit den Redaktionsverantwortlichen wurden die dahinter liegenden Strategien deutlich. Ein wichtiges Ziel aller Redaktionen ist, den besonderen eigenen Stücken eine attraktive Präsentation zu bieten und sie nicht im allzu schnellen, agenturgetriebenen Durchlauf der Themen untergehen zu lassen. Den frühen Vormittag haben viele Redaktionen dabei als besonders wichtig identifiziert: Sie versuchen, mit einem Frühdienst dafür zu sorgen, dass zum ersten Nutzungshoch die Top-Themen aktualisiert oder ausgetauscht sind – das bedeutet: Arbeitsbeginn um sechs oder sieben Uhr.

Das Problem zur frühen Stunde: Das Morgenloch. Es gibt eine hohe Nachfrage, aber wenig neue Nachrichten. Eine Strategie ist es, potenziell klickstarke Beiträge bereits am Vorabend vorzubereiten und dann zum Arbeitsbeginn freizuschalten. Ein Online-Redaktionsleiter einer Tageszeitung bringt diese Strategie so auf den Punkt: „Die Klicksäue bleiben im Stall, bis es hell wird.“ Einige lokale und regionale Dienste setzen morgens stark auf Blaulichtmeldungen.

Am späten Nachmittag kehrt sich das Problem für die Online-Blattmacher um: Die Print- und auch die Onlineredaktion haben ihre Beiträge im Tagesverlauf fertiggestellt, auch die Agenturen liefern Zusammenfassungen zu den wichtigsten Ereignissen des Tages – nun gibt es tendenziell ein Überangebot, aus dem sinnvoll ausgewählt werden muss. Die Hierarchisierung und Mischung der Themen sind entscheidend. Eine zu hohe „Drehgeschwindigkeit“ der Seite kann dazu führen, dass den Lesern wichtige und gute Stücke entgehen – und der Redaktion die Klicks für besonders attraktive Beiträge.

Blattmachen online bedeutet eine ständige Diskussion über die Entscheidungsregeln: Wie soll die Themenmischung sein? Wie soll die Redaktion mit Eilmeldungen umgehen, wie mit eher zeitlosen Beiträgen? Eine Orientierung an den Klickzahlen kann dabei hilfreich sein – allerdings nicht ohne einen eigenen redaktionellen Konsens über die publizistischen Ziele, der auch Entscheidungen gegen die Quote möglich macht. Sonst geht beim Blattmachen die wichtigste Aufgabe unter: Der Seite ein verlässliches journalistisches Profil zu geben.

Die Farbbalken zeigen den Wechsel der Aufmacherbeiträge im Tagesverlauf. Vor allem bei taz.de, faz.net und zeit.de zeigt sich, dass sie am untersuchten Tag die Aufmacherthemen am späten Nachmittag in schneller Folge austauschten – was auch mit den Produktionsrhythmen der Redaktionen zusammenhängt.

Die Farbbalken zeigen den Wechsel der Aufmacherbeiträge im Tagesverlauf. Vor allem bei taz.de, faz.net und zeit.de zeigt sich, dass sie am untersuchten Tag die Aufmacherthemen am späten Nachmittag in schneller Folge austauschten – was auch mit den Produktionsrhythmen der Redaktionen zusammenhängt.

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