Wozu Datenjournalismus?
Zwei Nominierte des Grimme Online Award 2012 sind datenjournalistische Projekte: Der „Zugmonitor“ der Süddeutschen Zeitung und das „Parteispenden-Watch“ der tageszeitung. Die publizistische Aufbereitung von Daten scheint – gerade im Internet – immer wichtiger zu werden. Die Medienjournalistin Ulrike Langer beleuchtet für quergewebt die Hintergründe.
Im Herbst 2011 veröffentlichte die spendenfinanzierte US-Plattform Pro Publica eine neue „NewsApp“ namens „Dollars for Docs„. Nutzer können in dieser Nachrichten-Anwendung nachschauen, ob ihr Arzt Honorare von der Pharmaindustrie annimmt, zum Beispiel für Medikamententests oder für Vorträge. „Die riesige Datenbank hinter der Anwendung hilft Nutzern dabei, ihre persönliche Geschichte in einer allgemeinen Geschichte zu entdecken“, erklärt Scott Klein, der das fünfköpfige NewsApp-Team bei ProPublica leitet. Anfang 2011 veröffentlichte die Berliner tageszeitung eine interaktive Fluglärmkarte auf ihrer Webseite, entwickelt von der Berliner Datenjournalismusagentur OpenDataCity. Die Zeitung fragt seitdem: „Wie laut wird es an Ihrem Wohnort?“ Nutzer können durch Verschieben eines Reglers feststellen, welche der (bei Veröffentlichung der Anwendung noch nicht feststehenden) Flugrouten des neuen Berliner Großflughafens welchen Lärm verursachen wird – in Abhängigkeit von Flughöhen sowie Starts oder Landungen. Im gleichen Jahr gewann Zeit Online für die interaktive Darstellung eines Bewegungsprofils einen Grimme Online Award. Die Redaktion hatte in Zusammenarbeit mit OpenDataCity die Telekommunikationsdaten des Grünen-Politikers Malte Spitz für einen Zeitraum von sechs Monaten visualisiert, mit seinen Daten aus sozialen Netzwerken verknüpft und damit einen eindringlichen Beitrag zur Debatte um die Vorratsdatenspeicherung geschaffen.
Geschichten mit Daten erzählen
Noch immer wird Datenjournalismus nicht nur von der Allgemeinheit, sondern auch von vielen Journalisten oft als Modeerscheinung abgetan und mit dem Erstellen von Infographiken gleichgesetzt. Diese sind in der Tat so alt wie die Wetterkarten und im Grunde sogar wie die ersten symbolischen Höhlenmalereien. Doch Datenjournalisten nutzen Daten nicht bloß für eine Recherche, verwenden einen Teil davon für Berichte oder Infographiken und archivieren den Rest der Daten ungenutzt und unzugänglich für die Öffentlichkeit. Datenjournalisten moderner Prägung werten Datensätze systematisch aus, visualieren sie in interaktiven Grafiken, stellen Daten in den Mittelpunkt einer Geschichte, machen Originärquellen transparent und stellen im Idealfall auch die Rohdaten der Allgemeinheit zur Verfügung. Dabei kann und will Datenjournalismus das herkömmliche Storytelling nicht ersetzen, sondern ergänzen. „Er erlaubt uns, Geschichten zu erzählen, die wir ansonsten nicht erzählen könnten und Werkzeuge zu nutzen, die wir früher nicht hatten. Doch es ist immer noch der Journalist, der eine Geschichte erzählt“, betont Aron Pilhofer, der bei der New York Times ein 14köpfiges Team von Datenjournalisten, Webdesignern und Programmieren leitet.
Als Startschuss für den heutigen Datenjournalismus gilt ein Manifest von Adrian Holovaty – Journalist, Programmierer und Gründer der Plattform „Everyblock“. Holovaty forderte schon 2006, dass Journalisten beim Verfassen von Beiträgen Daten systematisch erfassen sollten, damit zeitliche, örtliche und kausale Zusammenhänge in Berichten sichtbar und für Dritte nutzbar würden. Dann machte der Guardian im Frühjahr 2009 von sich reden, als er fast eine halbe Million Dokumente zum Spesenskandal der Unterhausabgeordneten zum Herunterladen ins Netz stellte und seine Nutzer bat: „Können Sie uns mit der Überprüfung dieser Daten helfen?“ Die Resonanz war überwältigend und machte die weitere umfassende Berichterstattung der Zeitung zum Thema erst möglich. Seitdem hat Datenjournalismus beim Guardian einen festen Platz. Die Londoner Redaktion hat einen Datablog und einen Datastore eingerichtet. Letzteres ist eine Serviceabteilung, die sich um das Aggregieren, Gewichten und Auswerten von Daten für redaktionelle Beiträge kümmert. Mehrfach wurde der Guardian für seine Aufbereitung der Wikileaks-Dokumente gelobt, die nicht nur in herkömmliche und multimedial aufbereitete Berichte mündete, sondern auch in eine von Nutzern recherchierbare Datenbank. Was Datenjournalismus leisten kann, wurde durch dieses beispielhafte Projekt erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bewusst.
Preiswertere Tools
Auch andere Faktoren haben dazu beigetragen, dass Datenjournalismus derzeit einer der großen journalistischen Trends ist. Die Tools, um Daten aufzubereiten, sind preiswert geworden, teilweise stehen sie sogar kostenlos im Netz zur Verfügung. Das Informationsfreiheitsgesetz, die „Open Data“ Bewegung, die sich für frei öffentliche Daten einsetzt und Whistleblower-Plattformen wie Wikileaks haben riesige Datenberge erzeugt. Und gleichzeitig hat die Berichterstattung über Wikileaks weitere Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt. Für Sascha Venohr, Entwickungsredakteur bei Zeit Online, ist Datenjournalismus „ein wichtiger Baustein in den Darstellungsformen, die uns zur Verfügung stehen – keine Mode-Erscheinung.“ Das sieht Aron Pilhofer von der New York Times genauso. Er glaubt, dass diese Form von Journalismus bald stärker eingesetzt werden wird, weil einzigartig und gut umgesetzte Projekte eine hohe Aufmersamkeit erzielen, viele Besucher auf Medienportale ziehen und somit für die Werbevermarktung von Websites relevant sind.
Zudem sei es ein Mythos zu glauben, dass nur große Redaktionen mit großen Budgets datenjournalistische Projekte umsetzen könnten, so Pilhofer. Auch in kleineren Redaktionen wie ProPublica oder der Los Angeles Times entstehen hervorragende datenjournalistische Projekte. An den meisten Umsetzungen der New York Times arbeiten nur bis zu drei Leute, betont der New Yorker Datenexperte: „Ein Journalist, ein Webdesigner und ein Programmierer. Das Problem ist eher, dass viele Medienhäuser sich nicht einmal darauf einlassen wollen.“ Mittlerweile probieren allerdings auch kleinere Redaktionen aus, wie sie Datenjournalismus effizient einsetzen können. So verwiesen im Februar 2012 die Dortmunder Ruhrnachrichten schon einen Tag nach der Veröffentlichung des Tools Datawrapper stolz auf ihre erste Umsetzung mit diesem kostenfreien Netzwerkzeug. Medien wiederum, die sich dem zukunftsträchtigen Feld des Datenjournalismus verweigern, erwächst zunehmend Konkurrenz von unabhängigen Anbietern. Denn datenjournalistische Kompetenz entwickelt sich auch außerhalb von Redaktionen in unabhängigen Agenturen und in Netzwerken. Projekte wie „Frankfurt Gestalten„, „Offenes Köln„, „Open Government Data Wien“ oder „Offener Haushalt“ entstanden ohne Medienbeteiligung. Journalistische Pioniere wiederum, die sich auf dieses Feld spezialisieren, steht der Markt als Dienstleister für Medienhäuser weit offen, denn die nötige Kompetenz in den Redaktionen muss erst noch aufgebaut werden.
Kleine Szene
Noch ist die internationale Szene der Datenjournalisten überschaubar klein, ihre Protagonisten kennen sich größtenteils untereinander und sie stehen der Open Source Bewegung nahe. Sie teilen freigiebig ihr Wissen in Barcamps, in einschlägigen Netzwerken wie „Hacks and Hackers“ sowie über kostenfreie Internettutorials. Mehr als ein Dutzend namhafte Datenjournalisten veröffentlichten zudem im April 2012 ein Handbuch, das ebenfalls kostenfrei im Netz steht. All das wird dazu beitragen, dass die Recherche in großen Datensätzen und ihre nutzwertige und intuitive Präsentation schon in wenigen Jahren zu den journalistischen Grundkenntnissen gehören wird. Simon Rogers, Datenchef des Guardian glaubt: „Ein Journalist, der sich Excel-Tabellen verweigert, wird bald genauso undenkbar sein wie ein Journalist, der heute noch ohne Computer- und Internetkenntnisse arbeitet.“
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