Kennen Sie Astroturfing?
Ein Selbstversuch zur Recherche in Crowd-Initiativen von Max Ruppert, Journalist und Kommunikationswissenschaftler.
GuttenPlag, VroniPlag, WulffPlag: Internetseiten, die sich als Namenszusatz die Silbe „Plag“ anhängen, haben sich mittlerweile im Netz etabliert. Sie stehen für Schwarm-Initiativen, die sich spontan zu aktuellen Aufreger-Themen bilden. Künftig kann also jedes Skandälchen sein entsprechendes „Plag“ im Internet mit sich bringen. Für Journalisten sind solche Plattformen dankbare Anlaufpunkte für die Recherche. Doch die journalistische Annäherung an den Schwarm ist oft mühselig – ein Selbstversuch mit dem WulffPlag, in dem die Verfehlungen des Bundespräsidenten dokumentiert wurden:
Der erste Kontakt mit WulffPlag
Auf der Internetseite de.wulffplag.wikia.com geht die Recherche los – die Netzaktivisten machen gleich klar, dass es nicht ganz einfach wird:
„Wir weisen aber ausdrücklich daraufhin, dass momentan niemand von uns das Recht hat, für alle Mitarbeiter zu sprechen. Wir bitten Sie dringend, bei einer Berichterstattung darauf aufmerksam zu machen. Natürlich steht es aber jedem Mitarbeiter frei, seine ganz eigene Meinung bzw. seine ganz eigene Deutung der Inhalte des WulffPlag gegenüber der Presse zu äußern.“
Okay, jetzt heißt es also, „Mitarbeiter“ identifizieren und einen finden, der mit mir reden will und auch was zu sagen hat. In der Benutzerliste des Wikis suche ich Nutzer aus, die viele Bearbeitungen haben oder als Administrator bzw. Gründer eingetragen sind. Als Gründer des Wikis ist jemand mit dem Pseudonym „Duraultra“ eingetragen. Es ist nicht ganz klar, ob es sich um eine Gründerin oder einen Gründer handelt. Klar ist nur: Duraultra will nicht, dass mehr als das Pseudonym bekannt wird, denn es geht ihm/ihr rein die Sache, die Dokumentation von Wulffs Verfehlungen. Zur Motivation, WulffPlag zu gründen schreibt Duraultra in den Kommentaren:
„Der Entschluss, das Wiki zu gründen, war relativ simpel: ich hatte den Überblick verloren. Statt eines Blatt Papiers war der Rechner näher. Statt Word wählte ich Wikia, da ich auf Mitarbeit hoffte, die ich ganz schnell auch fand.“
Martin Zeise ist schon etwas auskunftsfreudiger. Auf seiner WulffPlag-Benutzerseite hat er seinen Twitter-Account angegeben. Ich twittere ihn an und bekomme nach einem halben Tag per Tweet einen Link zu seiner Wikipedia-Benutzerseite. Für aktuell arbeitende Journalisten schon eine halbe Ewigkeit. Nachdem ich mich bei Wikipedia als Benutzer eingeloggt habe, kann ich ihn anmailen: Die Wege zu den Netzaktivisten sind verschlungen und ich frage mich, ob das so eine Art „Prüfung“ für die Social-Media-Kompetenz von Journalisten ist, bevor sie mit den WulffPlaggern kommunizieren dürfen.
Martin Zeise ist 52 Jahre alt, wohnt in Berlin. Er fährt gerne Rad und ist unter dem Pseudonym „Mazbln“ auf WulffPlag unterwegs. Dort ist er mit nur elf Bearbeitungen bereits unter denjenigen mit vielen Edits. Die meisten Nutzer machen gerade einmal eine Anmerkungen oder weisen auf einen Artikel hin und verlieren dann wohl schnell die Lust an weiterer Aktivität. Übrigens typisch für Wiki-Phänomene, wo meist ein kleiner Teil von Aktiven den Großteil der inhaltlichen Arbeit macht. Auf Wulffplag ist Zeise durch die Berichterstattung in verschiedenen klassischen Medien aufmerksam geworden. Zu seiner Motivation erläutert er: „Ich finde die Idee gut, die vorhandenen Informationen über die ‚Verfehlungen‘ von Christian Wulff zu sammeln und so neutral wie möglich zu beschreiben, auch weil ich denke, dass einzelne Medien, hier allen voran ‚Bild‘ und ‚Der Spiegel‘ interessengeleitet sind“.
Als Projektingenieur für Kraftwerke gehört Zeise zu den hoch gebildeten, engagierten und technisch versierten Menschen, die sich auch im Netz engagieren, er twittert fast täglich. Ein hoher Bildungsstand ist auch schon bei einer Online-Umfrage unter den Aktiven des GuttenPlag-Wikis zu Tage getreten und kann wohl generell für Schwarm-Phänomene im politischen oder wissenschaftlichen Bereich angenommen werden.
Radeln als gemeinsame Passion
Kurios: Auch Lutz Dressler aus Dresden ist Radler und setzt sich als VCD-Mitglied auch politisch für Fahrradfahrer ein. Nach einer kurzen Google-Suche kann man ihn als flotten Biker mit Hut und Fliege gefährliche Straßen in Dresden abfahren sehen. Bei WulffPlag gehört Lutz Dressler mit über 600 Bearbeitungen zu den besonders Eifrigen. Er hat es deswegen auch schon zum Administrator geschafft und hat mehr Rechte als normale Nutzer. Er kann z.B. andere sperren.
„So eine Macht ist aber meiner Meinung nach ein bisschen unheimlich. Wenn man hier unbesonnen vorgeht, dann kann man sich schnell dem Verdacht aussetzen, man wolle irgendwelche Inhalte zensieren“, erklärt er.
Dressler ist in Sachen Macht und deren Missbrauch sensibilisiert. Deshalb mag er das Wiki-Prinzip, das im Idealfall eine „herrschaftsfreie Kommunikation“ garantieren soll. Im WulffPlag ist Dressler eine Ausnahme, denn er operiert unter seinem echten Namen im Gegensatz zu den meisten anderen Netzaktivisten, die ein Pseudonym verwenden. Er gibt sogar seine Telefonnummer an und reagiert auf Mailboxnachrichten.
Schon mal was von „Astroturfing“ gehört?
Ohne dass ich danach gefragt hätte, spricht er plötzlich von einem Phänomen, das ich vorher so noch nicht kannte: „Astroturfing“! „Astro…was?“ frage ich mich, aber: Das gibt es wirklich!. Lutz Dressler übersetzt den Begriff mit „künstlicher Graswurzelbewegung“. Hin und wieder gebe es bei der Gründung von Initiativen den Vorwurf, dass Wirtschaftslobbyisten oder auch Parteien den vermeintlichen Bürgerprotest organisieren oder initiieren. Dass das WulffPlag ein Fall von Astroturfing, also durch Parteien angestoßen ist, glaubt er nicht, dazu seien die Aktivisten am Anfang zu unkoordiniert und unprofessionell vorgegangen. Für Lutz Dressler ist die Jagd nach Fällen von Astroturfing eine Passion:
„Ich finde es wichtig derartige Fälle aufzudecken. Als aktives Mitglied im Verkehrsclub Deutschland tue ich das zum Beispiel, in dem ich Astroturfingfälle der ‚Gesellschaft zur Förderung umweltgerechter Straßen- und Verkehrsplanung‘ aufdecke. Hier finanziert die Straßenbauwirtschaft deutschlandweit Bürgerinitiativen pro Straßenbau“, lässt er mich noch wissen.
Diese beiden Kurzportraits von Webaktivisten im WulffPlag-Wiki zeichnen kein repräsentatives Bild der Freiwilligen, aber sie stehen doch beispielhaft für diejenigen, die sich in so einem Wiki engagieren. Sie sind männlich, hoch gebildet und auch offline engagierte Bürger. Sie äußern sich vorsichtig und sind skeptisch den Medien gegenüber.
Nach dem Rücktritt von Christian Wulff ist das WulffPlag schon wieder Geschichte. Doch spontane Initiativen im Netz wird es auch weiterhin geben. Vielleicht nicht so groß wie bei Guttenberg, Koch-Mehrin oder Wulff. Für Journalisten sind die Plag-Wikis weiterhin interessant, denn die akribische Sammlung von Fakten und Verstößen, geleistet von vielen anonymen Nutzern, spart aufwändige Einzelrecherche und Faktensammlung. Journalisten müssen allerdings die Glaubwürdigkeit eines solchen Wikis abschätzen. Um an Informationen zu kommen, müssen sie Geschick und Kommunikationsfähigkeit mitbringen, denn Crowd-Phänomene sprechen nicht mit einer Stimme und sind deshalb schwer einzuschätzen. Und: Sie müssen sorgfältig prüfen, ob es sich nicht um „Astroturfing“ handelt – auch wenn ihnen dieses Wort unbekannt ist.
Ah! Super – jetzt auch mit WulffPlag-Screenshot!
Vielen Dank für den Hinweis auf den Text bei nrw-denkt-nachhaltig.de und die Verlinkung dort! „Astroturfing“, also Lobbyismus mit dem Anstrich einer Graswurzelbewegung, gab es natürlich auch schon früher. Aber dieses abgefahrene Wort dafür war mir bis vor ein paar Wochen neu!
P.S: Leider ist die Kommentarfunktion zu ihrem Beitrag bei nrw-denkt-nachhaltig.de ausgeschaltet – und dass, obwohl es um E-Demokratie geht! ;-)